»Frauen sind durchaus streiklustiger als ihre männlichen Kollegen«

Januar 2024

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Historikerin Alicia Gorny über den Streik in Crimmitschau 1903/1904 und über die vergessenen Streiks von Frauen in der Arbeiter*innenbewegung

4-Stunden-Liga: Hallo Alicia. Stell Dich doch bitte mal kurz vor.

Alicia Gorny: Mein Name ist Alicia Gorny. Ich habe in Bochum Geschichte und Gender Studies studiert und 2018 meinen Master gemacht. Thema war die Fraueninitiative Hattingen im Hüttenstreik 1986/87. Seit 2019 promoviere ich in Geschichte im Rahmen des Graduiertenkollegs „Soziale Folgen des Wandels der Arbeitswelt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Meine Dissertation trägt den Titel „‚Die Unorganisierbaren‘. Weibliches Engagement in der Gewerkschaft Textil-Bekleidung (1945-1998)“. Zur Zeit lebe ich in Essen.

Crimmitschau 1903/1904. Streik der Textilarbeiter*innen. Nicht alle kennen diesen Streik und wissen, warum es zum Ausstand kam. Kannst Du uns mal skizzieren, was dort passiert ist und was gefordert wurde?

Crimmitschau steht sinnbildlich für die schlechten Arbeitsbedingungen im damaligen Deutschen Kaiserreich. Mit etwa 7.000 Personen in 80 Betrieben stellte die Stadt ein Zentrum der Textilherstellung dar. Textilarbeiter*innen standen von je her am untersten Ende der Lohnskala und Frauen verdienten noch einmal deutlich weniger als Männer (etwa ein Drittel weniger).

Die Devise des Streiks lautete „Eine Stunde für uns! Eine Stunde für unsere Familie! Eine Stunde fürs Leben!“ Im Gegensatz zum fortschrittlichen Berlin wurde damals in Crimmitschau noch elf Stunden täglich gearbeitet (auch samstags). Daher war die Hauptforderung der Zehn-Stunden-Tag, zudem noch eine längere Mittagspause und höhere Löhne.

Was den Streik in Crimmitschau jedoch so „besonders“ macht, sind zum einen die Dauer. Der Streik zog sich über 22 Wochen, also fast ein halbes Jahr. Zum anderen ist die hohe weibliche Streikbeteiligung beachtenswert. Es waren, entgegen gängiger Annahmen, vor allem Frauen (gut 80 Prozent), die in den Ausstand traten.

Crimmitschau war damals eine Hochburg der Sozialdemokratie und viele Arbeiter*innen waren Gewerkschaftsmitglieder. Allerdings endet der Streik trotz solidarischer Bekundungen aus dem ganzen Reich mit einer Niederlage. Dies liegt vor allem daran, dass die übrigen Gewerkschaften nicht bereit waren, den Streik in Crimmitschau auch mit finanziellen Mitteln zu unterstützen und die Streikkassen sich schnell leerten. Zudem heuerten die Unternehmen Streikbrecher*innen aus den östlichen Gebieten des Reiches und Polen an und unterliefen so den Streik.

Wie können wir uns Leben und Arbeit der Textilarbeiterinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa und Deutschland vorstellen?

Die Arbeit in der Textilindustrie um die Jahrhundertwende war stark zergliedert und in viele Arbeitsschritte aufgeteilt, sodass sie auch von Ungelernten verrichtet werden konnte. Dies hatte zur Folge, dass vor allem in der Textilindustrie viele Frauen und Kinder beschäftigt wurden. Zum Beispiel um gerissene Fäden wieder zusammenzuknoten. Die Maschinen waren sehr laut und die Fabrikhallen dunkel. Zudem flogen Staub- und Textilfasern durch die Luft und verklebten die Atemwege. Wurden Personen in der Gerberei oder Färberei eingesetzt, hatten sie zusätzlich mit zum Teil giftigen und hautreizenden Chemikalien zu tun, denen ihre bloßen Hände und Füße ausgesetzt waren. Die Luft war sehr stickig und warm, weshalb viele nur leicht bekleidet arbeiteten. Der ständige Kontakt mit Wasser sorgte dafür, dass sich Atemwegserkrankungen schnell verbreiteten.

Die Wohnsituation von Arbeiter*innen war miserabel. Man wohnte mit vielen Personen in einem Zimmer und hatte oft noch Schlafgänger, um dadurch zusätzliche Einnahmen zu generieren oder um die Miete zahlen zu können. Es gab keine Kindergärten und viele Kleinkinder wurden sich selbst oder Nachbar*innen oder den Großeltern überlassen. Die Versorgung mit ausreichend Lebensmitteln und Kalorien für die gesamte Familie war ebenfalls problematisch, da die Löhne sehr gering waren.

Wie waren Frauen im 19. und 20.Jahrhundert in Gewerkschaften organisiert? Welche Konflikte gab es?

Bis zum 15. Mai 1908 wurde Frauen nach dem preußischen Vereinsrecht die Beteiligung in Organisationen untersagt. Ihre Beteiligung bis zu diesem Zeitpunkt lag also in einer Grauzone. Der Deutsche Textilarbeiterverband (DTAV) nahm allerdings seit seiner Gründung 1891 auch Frauen auf. Erstaunlicherweise gehörten sogar fünf weibliche Delegierte zu den Gründungsmitgliedern des Vereins. Damit hebt sich der DTAV von den übrigen Gewerkschaften ab, es bedeutet jedoch nicht, dass die Arbeit des Verbandes Frauen besonders gefördert hätte oder ein besonderes Augenmerk auf weibliche Belange gelegt hätte. Es zeigt vielmehr, dass es sich bei der Textilindustrie um eine weibliche Branche handelt. Eine Veränderung der Gewerkschaftspolitik ist ab 1914 und für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu beobachten, als ein verbesserter Schwangeren- und Wöchnerinnenschutz gefordert wurde. Die Nachfolge-Gewerkschaft, die Gewerkschaft Textil-Bekleidung, bezeichnet sich selbst als Frauengewerkschaft und weist seit ihrer Neugründung 1949 eine weibliche Mehrheit auf. Sie tritt vor allem für Verbesserungen der Frauenerwerbsarbeit ein, allerdings zeigt sich besonders in den Tarifen, dass auch hier Männer deutlich bevorzugt wurden.

Die übrigen Gewerkschaften vertraten vor allem den Prototyp des männlichen Stammarbeiters und agierten während der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch sichtlich frauenfeindlich. Letztendlich kann festgehalten werden, dass die Gewerkschaften bis weit in die 1960er Jahre hinein das Modell des Ernährers repräsentieren und Frauenerwerbsarbeit als unbeständig, situativ und vor allem als Zuverdienst betrachten. Eine systematische Organisation von Frauen wird in den vornehmlich männlichen Industrien nicht verfolgt. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass der Frauenanteil in den meisten Gewerkschaften deutlich unter 20 Prozent lag.

Du hast gesagt, dass der Streik in Crimmitschau überwiegend von Frauen getragen wurde. Unterscheiden sich die Arbeitskämpfe von Frauen von jenen ihrer männlichen Kollegen? Welche Bedeutung hat in dieser Hinsicht der Streik von Crimmitschau – wie haben die Frauen dort den Arbeitskampf geführt?

Die Frage, ob sich Arbeitskämpfe von jenen ihrer männlichen Kollegen unterscheiden, ist nicht so einfach zu beantworten. Einerseits, weil es bisher wenig Forschung dazu gibt und andererseits, weil lange die Verwendung des generischen Maskulinums als Neutrum dazu geführt hat, die Beteiligung von Frauen an Streiks zu verdecken.

Generell lassen sich aber folgende Beobachtungen machen:

  1. Frauen sind entgegen einer gängigen Annahme sehr gut für Streiks zu gewinnen.
  2. Vor allem viele „wilde Streiks“ (das sind solche Streiks, die nicht von einer Gewerkschaft getragen werden) wurden von Frauen begonnen. Dabei zeigt sich, dass Frauen durchaus konfrontativer und streiklustiger sind als ihre männlichen Kollegen.
  3. Männer neigen eher zum Verhandeln, weshalb sie auch eher als Verhandlungsführer auftreten (und dadurch auch die Sichtbarkeit von Frauen verhindern). Frauen, so scheint es, gehen pragmatischer an Streiks heran und nutzen diese vor allem, um ihren Unmut zu zeigen.
  4. Es gibt die Vermutung, dass Frauenstreiks kreativer sind als männlich dominierte Streiks. Dies kann einerseits daran liegen, dass männliche Streiks sich meist am klassischen Streikrepertoire der Gewerkschaften abarbeiten (und diese Taktik auch funktioniert…siehe derzeit bei der GDL). Andererseits arbeiten Frauen auch häufiger in kreativen Branchen, weshalb ihnen auch ganz andere Mittel zur Verfügung stehen. Der Kitastreik von 2012, der als „bunter Streik“ erinnert wird, wird als von klassischen Streiks abweichend angesehen. Zu einem Problem wird das dann, wenn ein Streik aufgrund der „Andersartigkeit“ (weil eben nicht klassisch codiert) nicht in dem Maße ernst genommen wird wie ein männlich dominierter Streik.

Es ist schwer zu sagen, ob in Crimmitschau besonders weibliche Attribute Eingang in den Streik fanden. Allerdings kann eine Erklärung für das lange Durchhalten sein, dass Frauen, wenn sie sich einmal entschieden haben in den Ausstand zu treten, auch nicht so schnell klein beigeben.

Du thematisierst die fehlende Unterstützung der Gewerkschaften. Darüber hinaus haben sicherlich auch andere Faktoren zum Ende des Streiks beigetragen: Kannst du etwas dazu sagen, wie die staatlichen Behörden und wie die Kapitalseite auf die streikenden Frauen reagiert haben? Wie haben diese Reaktionen das Streikgeschehen und die Aktivitäten der Frauen beeinflusst?

Die Kapitalseite hat „klassisch“ reagiert – mit Aussperrungen und Streikbrecher*innen. Im Zuge des Arbeitskampfes haben viele ihre Arbeitsstelle unwiederbringlich verloren und konnten auch in anderen Betrieben nicht mehr Fuß fassen.

Es gibt keine Quellen, die belegen, dass die Kapitalseite anders in Crimmitschau verfuhr als an anderen Streikorten. Unternehmende waren generell bei Arbeitsniederlegungen sehr erbost und betrachteten es als persönlichen Angriff – da spielte es scheinbar keine Rolle, dass der Streik vornehmlich von Frauen getragen wurde. Es gibt zumindest keine Quellen, die darüber einen Schluss zulassen. Meine Vermutung wäre, dass Streiks, die von Frauen getragen wurden, gar nicht so ungewöhnlich waren, wie es heute oft dargestellt wird. Es ist eher eine Wahrheit, die im Zuge zweier Weltkriege verloren gegangen ist.

Was denkst du, wie verschiebt sich unsere Wahrnehmung der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung, wenn man wie du, die wenig beachteten Kämpfe von Frauen in den Mittelpunkt rückt? Gibt es etwas für heutige Auseinandersetzungen zu lernen?

Ich glaube, unsere Wahrnehmung wird durch die Sichtbarmachung von weiblichen, aber auch von migrantischen Streiks vielseitiger und spiegelt dadurch auch eher die „Wahrheit“ wider. Streiks sind und waren nie per se eine (weiße) Männersache. Männer sind lediglich besser darin, ihre Version von Geschichte zu bewahren und zu stilisieren.

Was man generell von (erfolgreichen) Streiks lernen kann, ist, wie wichtig es ist, sich für etwas einzusetzen und sich zu solidarisieren. Die Kapitalseite versucht von je her die Arbeiter*innenbewegung zu spalten, umso wichtiger ist Zusammenhalt.