10 gute Gründe

Eine Kollegin und Mitstreiterin hat mal für sich ein paar Argumente zusammengetragen, warum es sich lohne, weniger Lohnarbeit verrichten zu müssen. Hier die 10 Gründe, die dabei zusammengekommen sind:

1. Weil bestimmte Jobs an Attraktivität gewinnen würde

Perfektes Beispiel: Gesundheitsbranche. In den letzten Jahren habe ich öfter (angehende) Krankenpfleger, Altenpfleger oder Ärzte kennengelernt. Die Tendenz bei allen: auch wenn sie gerne mit ihren Patienten arbeiten, lassen die Arbeitsbedingungen sie an ihrer Berufswahl zweifeln. Soweit, dass sie den Beruf wechseln. Denn ihre Erfahrungen entsprechen dem Ruf der Branche: lange Arbeitszeiten, Dauerstress, hohe körperliche Belastung. Aber wie würde es aussehen, wenn sich diese Belastung auf wenige Stunden pro Tag oder wenige Tage pro Woche verringern würde? Und das bei gleicher Bezahlung. Natürlich müsste aufgrund kürzerer Arbeitszeiten fehlendes medizinisches Personal kompensiert werden. Aber ist das so abwegig, wenn es a) vielleicht mehr Menschen in diesen Bereich zieht und b) Menschen, die es gerne möchten, erleichtert, kranke oder alte Angehörige zuhause zu pflegen?

2. Weil es für eine bessere Arbeitsteilung sorgt

Aus Pragmatismus landen nach wie vor viele Paare in der klassischen Rollenverteilung: sie nimmt den Großteil der Elternzeit, er arbeitet weiter Vollzeit. Weil sie sowieso zu Hause ist, macht sie mehr im Haushalt. Dafür verdient er besser und kann an seiner Karriere arbeiten. Sie wiederum hat bei einer Trennung oder im Alter schlechtere Karten usw. Wenn alle nur noch halbtags arbeiten würden, ließe sich die Arbeitsteilung in der Familie fairer organisieren. Zum Beispiel, indem sie vormittags Kinder und Haushalt übernimmt und nachmittags der Lohnarbeit nachgeht und er eben andersherum. Oder beide arbeiten vormittags, lassen die Kinder fremdbetreuen und kümmern sich nachmittags gemeinsam und in Ruhe um Haushalt und Familie. Auch für Alleinerziehende wäre die Situation zwischen Beruf, Kindererziehung, Haushalt einfacher zu schaffen, wäre ein Achtstundentag nicht die Norm und alles darunter prekär.

3. Weil es Menschen in den Arbeitsmarkt integriert, die es sonst nicht so leicht haben

Ein Vorurteil über Gendermainstreaming ist, dass es nur Frauen nützt. Stimmt so nicht. Ziel ist es, Arbeitsbedingungen zu schaffen, die sich nicht mehr an einem gesunden, zeitlich flexiblen Mann als Status quo orientieren. Sondern solche, die neben Müttern und Alleinerziehenden beispielsweise auch Menschen mit chronischen Krankheiten, Behinderungen oder eben ältere Arbeitnehmer berücksichtigen. Also auch chronisch kranke oder ältere Männer, die vielleicht noch arbeiten wollen, aber für die 40 Wochenstunden zu viel sind. Ist mir bewusst, dass dieses Argument schwierig ist, weil alle weniger arbeiten sollen und manche dann plötzlich doch mehr. Aber es sollte kein Muss sein, sondern, wie gesagt, eine Möglichkeit für Menschen, die dies gerne möchten. Auch die Arbeitslosenquote würde sich verringern, wenn auf Aufgaben, die vorher einer gemacht hat, plötzlich zwei Arbeitnehmer kommen.

4. Weil es das Zusammenleben verbessert

Fairerweise das Gegenargument zuerst: Ja, über den Beruf lernen wir Menschen kennen, mit einigen von ihnen freunden wir uns an. Für die Entstehung dieser Freundschaften braucht es aber keine 40-Stundenwoche. Die wiederum wirkt sich störend auf soziale Beziehungen aus, weil oft die Zeit fehlt, sie zu pflegen — speziell, wenn Freunde in einer anderen Stadt wohnen, Familie oder sonstige Verpflichtungen haben. Aber auch die Übersättigung an Sozialkontakten durch die Arbeit macht sich bei einigen Menschen (also mir) bemerkbar. Stellenausschreibungen als Leuchtturmwärter oder Schäfer sind selten, daher arbeiten die meisten von uns mit Menschen zusammen. Und wer kennt das nicht, dass sie/er abends heimkommt und als Ansprechpartner nur noch Netflix will? Im worst case sitzen wir pro Woche 40 bis 50 Stunden mit denselben Menschen in einem Raum. Das ist ein ziemlich unnatürliches Setting, welches regelmäßig zu Verdruss führt. Schon die selbstgewählten Freunde sind in diesem Umfang schwer zu ertragen, mit mehr oder weniger willkürlich zugeordneten Kollegen wird’s nicht besser.

5. Weil wir mehr Zeit für ehrenamtliche Aufgaben haben

Auch hier wieder die Kritik zum Einstieg: Warum etwas für lau machen, wenn es Arbeit ist und sich bezahlen ließe? Aber seien wir mal realistisch, selbst wenn wir in einer Planwirtschaft leben würden, gäbe es immer Arbeiten, die keine hohe Priorität genießen und entsprechend gering oder gar nicht entlohnt werden. Weniger Wochenarbeitszeit hat den Vorteil, dass wir uns selbst Aufgaben suchen können, die wir für wichtig halten, unabhängig ihrer ökonomischen Relevanz. Stadtgarten anlegen, Flüchtlingshilfe oder ab und an der achtzigjährigen Nachbarin den Abwasch machen — mit 20 Stunden Wochenarbeitszeit wäre sowas regelmäßig und stressfrei möglich.

6. Weil es die Demokratie stärken kann

Eine Demokratie lebt davon, dass wir uns einbringen. Und “einbringen” heißt im Idealfall mehr, als abzustimmen. Es heißt, dass wir uns mit aktuellen Themen auseinandersetzen, vielleicht auch mal ein Buch übers Gesundheitswesen oder über alternative Energien lesen, statt nur Überschriften. Dass wir Parteien, Gewerkschaften oder Interessengruppen beitreten und die Versammlungen und Veranstaltungen dort regelmäßig besuchen. Vor allem auf lokalpolitischer Ebene ist es zwar üblich, Vollzeit zu arbeiten und gleichzeitig im Ortsbeirat zu sitzen. Aber auch hier stellt sich natürlich wieder die Frage, wer es sich zeitlich leisten kann und zu welchem Preis.

7. Weil es nachhaltig ist

Wer arbeitet, verbraucht Ressourcen. Angefangen vom Arbeitsweg, Strom für Rechner oder Maschinen, Druckerzeugnisse („Ich weiß nicht, wie ich vier Power-Point-Slides auf ein Blatt kriege…“) bis hin zu den hergestellten Waren. Weniger Arbeiten soll nicht zwangsläufig mit weniger konsumieren einhergehen, sinnvoll wäre es aber trotzdem. Dass Ressourcen, aus denen wir Produkte herstellen, auf diesem Planeten nicht unendlich vorhanden sind, ist keine Breaking News. Wenn wir also weniger arbeiten und dabei weniger Handys herstellen, sind am Ende auch weniger Handys im Umlauf. In der gewonnenen Zeit können wir uns dafür aber auch mal daran machen, die bereits vorhandenen Geräte zu reparieren, statt zu entsorgen. Ganz platt gesagt. Als Bonus noch die paraphrasierte Anmerkung eines Freundes: wenn wir mehr Zeit haben, die wir mit schönen Erfahrungen und korrekten Menschen verbringen können, dann sinkt die Lust zu konsumieren (Klingt erstmal hippiesk, kann ich aber aus eigener Erfahrung bestätigen. Ein kluges Gespräch, eine exzessive Party, aufregender Sex machen mich länger glücklich als drei neue Shirts und ein Bauch voll Sushi.).

8. Weil es gesund ist

Ob Burnout im Büro oder Bandscheibe auf dem Bauernhof: Arbeit kann ganz verschiedene Krankheiten, vorzeitige körperliche Verschleißerscheinungen und Verletzungen mit sich bringen. Weniger Arbeit reduziert die einseitige Belastung, die zu gesundheitlichen Problemen führt. Und: es nimmt ihr auch den sozialen Stellenwert, der dazu führt, dass sich Menschen minderwertig fühlen oder Depressionen entwickeln, weil sie arbeitslos oder arbeitsunfähig sind. Mit vier Stunden pro Tag macht Arbeit nur noch einen kleinen Teil des Lebens aus, neben sozialen Kontakten, Familie, Ehrenamt, Politik, Sport, kreativer Selbstverwirklichung usw. — alles Dinge, über die sich ein Mensch genauso gut identifizieren kann wie über seinen Job.

9. Weil es schlechte Jobs reduziert

Weniger Arbeitszeit für den Einzelnen gleich mehr Jobs um notwendige Aufgaben zu erfüllen gleich mehr Auswahl. Wer unter shitty Bedingungen mit langweiligen Aufgaben, fiesen Chefs und mobbenden Kollegen betraut ist, findet schneller eine bessere Option. Arbeitgeber sind dazu gezwungen, ihre Unternehmen möglichst attraktiv zu gestalten, um für Arbeitnehmer attraktiv zu sein und zu bleiben. Vielleicht wird es bei einem Mangel an qualifiziertem Personal auch spannend, mehr in Aus- und Weiterbildung zu investieren, um weniger qualifizierte Arbeitnehmer einstellen und entwickeln zu können.

10. Weil sich „nichts müssen“ ziemlich gut anfühlt

Mein persönliches Hauptargument. Den größten Teil meiner eigenen Unzufriedenheit mit der Vollzeitbeschäftigung besteht in der Einengung, die sie mit sich bringt. Bei 7–8 Stunden Schlaf pro Nacht, 9 Stunden im Büro (Mittagspause lässt sich kaum als Freizeit bewerten) und einer Stunde Fahrt pro Tag bleiben mir sechs Stunden, die ich nach meinen persönlichen Vorlieben gestalten kann (Hausarbeit, Körperpflege, Nahrungsaufnahme inbegriffen). Sofern ich dann noch die nötige Energie und Aufmerksamkeit habe, um wirklich Dinge zu tun, die mir Freude bereiten. Ziemlich wenig, wenn ich bedenke, dass ich nicht so viele Leben habe. Wie gut fühlen sich dagegen Wochenenden und Urlaubstage an, an denen das „Muss“ kleingeschrieben wird. Davon hätte ich gerne mehr.