Ein Gespräch mit Nikolas Lelle über das Ideologem „deutsche Arbeit“ und emanzipatorische Gegenentwürfe.
Dezember 2025
Hallo Nikolas, stell Dich doch bitte mal kurz vor.
Hallo, ich heiße Nikolas Lelle. Ich arbeite seit 2020 bei der Amadeu Antonio Stiftung und beschäftige mich viel mit Antisemitismuskritik, Erinnerungskultur und dem Nationalsozialismus. Ich habe in Frankfurt am Main und Mainz studiert und an der Humboldt Universität promoviert. Daraus wurden später Bücher, die beim Verbrecher Verlag erschienen sind: “Arbeit, Dienst und Führung. Das Erbe des Nationalsozialismus” und “,Arbeit macht frei’. Annäherungen an eine NS-Devise”.
Du hast Dich intensiv mit der „deutschen Arbeit“ auseinandergesetzt. Was ist darunter zu verstehen und was ist das spezifisch Deutsche daran?
“Deutsche Arbeit” ist eine Idee, genauer gesagt ein Ideologem. Also ein Baustein für eine Auffassung von der Welt, für eine umfassendere Ideologie, falsch aber wirkmächtig. Es ist ein ideologisches Selbstbild, das über Fremdbilder hergestellt wird. Das Ideologem “deutscher Arbeit” besagt, Deutsche hätten eine ganz besondere Beziehung zu Arbeit, sie wären fleißiger oder würden aus Gemeinnutz arbeiten. Die Idee geht zurück bis zu Martin Luther, wird aber insbesondere im 19. Jahrhundert geformt – und später von den Nationalsozialisten zugespitzt. Adolf Hitler behauptet in einer Rede im Sommer 1920, deutsch sei eine Arbeit, die der Volksgemeinschaft dient. Spezifisch Deutsch daran ist wie hier Arbeit und Antisemitismus miteinander verwoben sind. “Der Jude” wird zu all diesen Zeiten als die zentrale Gegenfigur inszeniert. Hitler rechtfertigt seinen Antisemitismus 1920 explizit mit seiner Arbeitsideologie, spricht davon “die Juden” würden nur aus Eigennutz arbeiten. Ganz im Gegensatz zu “seinen Volksgenossen”, die aus Gemeinnutz arbeiten sollen.
Du analysierst, inwiefern die nationalsozialistische Idee von „deutscher Arbeit“ mit Antisemitismus, Rassismus und Antiziganismus verknüpft ist. Kannst du einmal erläutern, welche Dimensionen des NS-Arbeitsbegriffs derartige Menschen- und Weltbilder erzeugen und verstärken?
Blickt man auf die Arbeitsauffassung der Nationalsozialisten versteht man wie Antisemitismus in dieser Ideologie mit Rassismus, Antiziganismus, aber auch mit Sozialchauvinismus verwoben ist. Das Ideologem “deutsche Arbeit” erfindet ein Selbstbild, indem es solche Fremdbilder konstruiert. Die Nazis verfolgten ab 1933 Bettelnde, weil sie sich dem Dienst an der Volksgemeinschaft entziehen würden, sie sperrten potentielle “Volksgenossen” in Arbeitshäuser oder Arbeitserziehungslager, zwangen 13 Millionen Menschen aus ganz Europa im Deutschen Reich Arbeit zu leisten und vernichteten Sinti*zze und Romn*ja sowie Jüdinnen*Juden durch Arbeit. Das alles hängt mit der Idee der Überlegenheit “deutscher Arbeit”, die die Volksgemeinschaft konstituiert und stärkt, zusammen, einer brutal ausschließenden, zutiefst antisemitischen und rassistischen Entität. Hinter dem Ruf nach “deutscher Arbeit” verschanzt sich die Volksgemeinschaft.
Wir erleben derzeit politisch wie medial eine Debatte, in der propagiert wird, es müsse mehr, länger und effizienter gearbeitet werden. Welche Verbindungslinien zwischen der heutigen Debatte und dem nationalsozialistischen Arbeitsbegriff siehst du? Was ist vielleicht auch neu und wie passen diese Elemente zusammen?
Arbeitsregime wurden immer über Debatten und Repression hergestellt. Gerade erleben wir, wie der Druck auf diejenigen, die angeblich nicht mitmachen, die sich verweigern würden, wieder wächst. Begleitet wurde das in unserer Gesellschaft übrigens immer auch mit Gewalt. Seit 1990 wurden zum Beispiel 29 Obdachlose von Rechtsextremen ermordet.
Die aktuellen Debatten erinnern mich vor allem an diejenigen zu Hartz IV. Damals rechtfertigte selbst ein SPD-Minister die Politik seiner Regierung mit einem Satz, den auch die Nazis gerne nutzten: “Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen”. Ich glaube, es sind genau diese Feindbilder, die Verbindungslinien aufzeigen: rassistische Ideen von den faulen Anderen, Geraune über arbeitsscheue Deutsche oder reiche Juden – und dieses überhöhende Selbstbild von der ach so guten deutschen Arbeit. Dennoch gibt es durchaus auch Brüche. Die Volksgemeinschaft ist als Mobilisierungsfigur nicht mehr im selben Maße zu verwenden; vielleicht noch nicht. Hier hat die AfD in den vergangenen zehn Jahren die Grenzen des Sagbaren schon deutlich verschoben.
Ein Beispiel für eine neue Dimension der Diskussion über Arbeit ist die Devise, dass heute alles und alle besonders flexibel, individualisiert und nicht-standardgemäß sein sollen in der Arbeit und auch generell im Leben. Inwiefern lassen sich diese neuen Anforderungen ans arbeitende Subjekt in die Ideologie der „deutschen Arbeit“ einordnen – und inwiefern widersprechen sie dieser Ideologie vielleicht auch?
Wir alle sind ein “unternehmerisches Selbst” geworden. So brachte es der Freiburger Soziologe Ulrich Bröckling mal auf den Punkt. Wir müssen uns und unsere Fähigkeiten permanent evaluieren und anpassen, um mithalten zu können. Die Verantwortung für Erfolg liegt nur bei uns selbst, so die Ideologie. Das wirkt wie ein Gegenmodell zum Nationalsozialismus. Denn da sind die Einzelnen ja auf geradezu totalitäre Weise in die Volksgemeinschaft eingeordnet, mit Führern darüber und als Teil einer Gefolgschaft. In meinem Buch “Arbeit, Dienst und Führung” spreche ich daher vom “folgenden Selbst”, um diese Subjektform abzugrenzen von der gegenwärtigen. Studien zum Nationalsozialismus, zum Beispiel von Karsten Uhl, haben aber gezeigt, dass auch der Nationalsozialismus durchaus auf Eigenverantwortung setzte, denn Gefolgschaft hieß nicht passiv gehorchen, sondern aktiv mitarbeiten. Ich will nicht alles gleich machen, aber vielleicht sind die Brüche auf der Ebene der Arbeitsideologie kleiner als wir manchmal annehmen.
Welche gesellschaftliche und politische Entwicklung spiegelt sich deiner Meinung nach in diesen Anforderungen und in der Tatsache, dass Beschäftigte sie teilweise dankbar annehmen?
Diese Art Arbeitsregime passt in unsere Zeit der Vereinzelung und Selbstdarstellung. Das zeigt sich auf den Sozialen Netzwerken wie in der Universität oder am Arbeitsplatz. Dass die Einzelnen kaum umhinkommen, die Anforderungen der Arbeitslogik auch anzunehmen, liegt auf der Hand. Sich entziehen ist kaum mehr möglich, wer durch das Netz fällt, wie man sagt, der wird drangsaliert. Ein individueller Ausstieg ist nur noch gegen einen hohen Preis zu kriegen. Gleichzeitig gibt es kaum kollektive Anstrengungen ein anderes Arbeiten zu ermöglichen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich durch Pandemie, Wohnungsmarkt und Wirtschaftskrisen dermaßen zugespitzt, dass kollektive Gegenmodelle rar gesät sind.
Welche Rolle spielt sogenannte Reproduktions- oder Sorgearbeit in der Ideologie der „deutschen Arbeit“ des Nationalsozialismus und heute und inwieweit ist diese Auffassung antiemanzipatorisch?
Der Arbeitsbegriff, den Hitler 1920 vorschlägt, integriert solche Arbeitsvarianten. Wenn deutsche Arbeit ist, was der Volksgemein-schaft dient, dann können hier auch Care-Arbeiten darunter gefasst werden. Das Austragen und die Erziehung von Kindern ist in dieser Ideologie eine Form der Arbeit, die der Volksgemeinschaft dient. Der Begriff ist aber selbstverständlich zutiefst antiemanzi-patorisch, nicht nur weil er antisemitisch und rassistisch ist, sondern auch weil er für Frauen nur gerade diese Tätigkeiten als natürliche propagiert. Bis in den Zweiten Weltkrieg hinein als Frauen dann zunehmend auch für die Rüstungsproduktion gebraucht werden, sind sie im Nationalsozialismus traditionell im Haus und am Herd verortet.
Es gab zu Recht viel feministische Kritik an Arbeitsbegriffen, die die Lohnarbeit ins Zentrum stellen und die vielen unbezahlten Arbeiten nicht sahen oder ignorierten. “Lohn für Hausarbeit” war einmal eine radikale Forderung, um hier gegenzusteuern und sichtbar zu machen, wieviel gesellschaftliche Reproduktionsarbeit an Frauen hängen bleibt. Heute gibt es im Diskurs ein viel größeres Bewusstsein darüber, dank dieser feminis-tischen Kämpfe. Insbesondere aber wenn man sich aktuelle, rassistische oder sozial-chauvinistische Familienbilder ansieht, begreift man wie im Ideologem “deutsche Arbeit” bis heute auch antifeministische Auf-fassungen eine Rolle spielen.
Viele Beschäftigte schleppen sich in Deutschland auch krank zu Arbeit, obwohl sie zumindest formal niemand zwingt: Wie lässt sich dieser innere Zwang und das Verhältnis zur Arbeit, das darin zum Ausdruck kommt, erklären?
Ich würde davor warnen, die Einzelnen in einer solchen Kritik in den Mittelpunkt zu rücken. Der stumme Zwang der Verhältnisse darf nicht unterschätzt werden. Die Menschen wissen, dass sie mitmachen müssen, um ihr Leben zu bestreiten. Ausfall durch Krankheiten aber auch durch Schwangerschaften wird nachweislich bestraft, so etwas bremst die eigene Karriere aus. Dagegen müssen wir Arbeitsverhältnisse stärken, die anders funktionieren.
In Deiner Studie „Arbeit, Dienst und Führung“ plädierst Du in einem Abschnitt für „Nicht-Arbeit“. Was ist unter dieser „Nicht-Arbeit“ zu verstehen und wie verhält sie sich zu landläufigen Vorstellungen von „Freizeit“ oder „Feierabend“?
Immer da wo Arbeit definiert wird, wird auch Nicht-Arbeit bestimmt. Das übersehen wir aber oft. Für die Nationalsozialisten war deshalb auch vieles, was wir für Arbeit halten würden, Nicht-Arbeit, etwa die Arbeit von Nicht-Deutschen. Wenn alles Arbeit ist, was der Volksgemeinschaft dient, sind Arbeiten, die dieser nicht dienen Nicht-Arbeit. Ich plädiere dafür diese im Schatten liegende Seite der Arbeitsbegriffe mitzudenken – und wieder stärker in den Fokus unserer Arbeitskritik zu rücken. Man könnte hier anschließen an Paul Lafargue oder die Müßiggangster. Nicht-Arbeit sind Praktiken des Müßiggangs, der Verschwendung von Zeit, aber auch Formen des solidarischen Mitein-anders – sie prägen unsere Gesellschaft und in ihnen scheint eine Gesellschaft auf, die sich den Arbeitslogiken entzieht. Theodor W. Adorno spricht in seinem berühmten Aphorismus “Sur l’eau” nicht nur vom “auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel starren”, sondern er kritisiert auch die “blinde Wut des Machens”. Vielleicht sollten wir – auch aus ökologischen Gründen – in unserer Arbeitskritik mehr aufs Lassen als aufs Machen schauen.
Als 4-Stunden-Liga machen wir immer wieder stark, dass (radikale) Arbeitszeitverkürzung eine genuin anti-autoritäre oder sogar anti-faschistische Forderung darstellt. Kannst Du dem vor dem Hintergrund deiner Forschungen zustimmen?
Faschisten lieben Arbeit. Das erfüllt einen Zweck: sie brauchen Arbeitsauffassungen, um “das Volk” zu aktivieren. Insofern ist die Forderung nach radikaler Arbeitszeitver-kürzung selbstverständlich ein sehr konkretes Gegenmodell. Die extreme Rechte kann vieles übernehmen, das aber nicht. Eine Welt mit solch radikaler Arbeitszeitverkürzung wäre eine andere. Da bin ich sicher. Aber es wirkt auch zugleich wie ein utopischer Einwurf in einer Welt der Realpolitik.
Welche Stoßrichtung muss eine Kritik der Arbeit haben, um emanzipatorisch zu sein, also das gute Leben für alle im Blick zu haben/ anzustreben?
Zwei Punkte sind mir hier wichtig. 1. Wichtig ist beim Entwerfen eines neuen, besseren Arbeitsbegriffs, dass Verweigerung mitge-dacht wird. Das lernt man an der Beschäf-tigung mit dem Nationalsozialismus. Es muss immer möglich sein, nicht mitzumachen. Wir brauchen eine Gesellschaft, die für alle sorgt, selbst für diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – sich nicht beteiligen wollen. Alles andere kippt ins Totalitäre. 2. Eine Kritik der Arbeit sollte sich zudem immer bewusst sein, dass eine regressive Kapitalismuskritik schnell Antisemitismus reproduziert. So wichtig auch eine Kritik des Reichtums und damit auch der aktuell Reichen ist, so wichtig ist es zu verstehen, dass wir in einem totalitären Gesellschaftsmodell leben. Der Kapitalismus wird von uns allen getragen. Als “automatisches Subjekt”, wie Marx sagt, reproduziert er sich durch uns alle selbst. Die Reichen für ihr Handeln zu kritisieren, ist nie genug. Fight the Game, not the Player.
Siehst Du in den aktuellen Auseinandersetzungen zum Thema Arbeit positive Anknüpfungspunkte? Falls ja: Wo und bei wem?
Ich sehe zur Zeit vor allem Abwehrkämpfe. Es braucht viel Kraft und Energie, um Freiräume zu verteidigen, kollektives Arbeiten zu be-wahren, rechtsextreme Raumnahmen zurück-zudrängen und in dieser Gesellschaft in Würde zu bestehen. Es ist noch ein weiter Weg zu einer Gesellschaft, in der alle ohne Angst verschieden sein können. So weit der Weg aber auch ist: wir dürfen uns nicht entmutigen lassen. Es gibt keine Alternative.
Vielen Dank dir!