»Zeit ist die wichtigste immaterielle Ressource, die Menschen haben«

Ein Gespräch mit Natascha Strobl über Klassenkampf von oben, Arbeitszeitverkürzung und Solidarität.

Januar 2025

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Natascha Strobl ist Publizistin, Politikwissenschaftlerin und Autorin mehrerer Bücher. Sie ist Expertin für Rechtsextremismus & Neue Rechte, zudem analysiert und kritisiert sie auf vielfältigen Kanälen aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Zuletzt erschien ihr Buch »Solidarität«1), in dem sie für eine gemeinsame, antikapitalistische Strategie plädiert.

4-Stunden-Liga: Wir möchten mit dir gerne über zwei deiner Bücher reden, die wir als 4-Stunden-Liga für unsere Arbeit als besonders interessant erachten. 2023 hast du ein Buch geschrieben, das »Solidarität« heißt. Ein Kern-Thema emanzipatorischer Politik. Angesichts des Dauerkrisenmodus, in dem sich der globale Kapitalismus spätestens seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/2008 befindet, scheint Solidarität jedoch kein geteilter Bezugspunkt mehr zu sein. Die drastischen Kürzungen der neoliberalen Wende wurden verschärft und die kurze Infragestellung dieser Politik während der Corona-Pandemie scheint längst vorüber – die Angriffe auf sozialstaatliche Errungenschaften nehmen zu und die völkische Rechte gewinnt an Raum und in Wahlen. Linke Kräfte sind zudem ins Abseits geraten. Worum geht es dir in deinem Buch und glaubst du, wir können Solidarität als Prinzip noch retten?

Natascha Strobl: In meinem Buch nehme ich diesen Dauerkrisenmodus als Ausgangspunkt und frage mich, wie es von hier weiter gehen soll. Dabei steht zuallererst die Frage, ob man den aktuellen Zustand für ein Missverständnis hält, der auch schnell wieder vorbei geht. Quasi ein Ausreißer vom Normalzustand, der auch wieder vorbei geht. Das sind die bewahrenden Kräfte, die einen (fiktiven Status Quo) erhalten wollen. Das sind klassisch konservative, aber auch sozialdemokratische und auch Grüne und Liberale Parteien (oft in Regierungsfunktion). Dann gibt es jene, die den Status Quo überwinden wollen und zu einer neuen Normalität kommen möchten. Hier gibt es drei Richtungen: Die Transformation des Kapitalismus hin zu Green Capitalism, Achtsamkeits-Nachhaltigkeits-Kapitalismus.

Zweitens die autoritäre, faschistische Wende. Drittens ist es noch eine ziemliche Leerstelle. Das wäre die solidarische Überwindung des Status Quo. Hier kommt die Frage von Solidarität ins Spiel, die ich als pragmatische Überlebensstrategie sehe für jene, die alleine nicht genügend Macht haben. Dabei haben sich die Kämpfe aber so ausdifferenziert, dass ich Solidarität als Klammer verstehe, in der all die unterschiedlichen Auseinandersetzungen Platz haben. Gemeinsam haben wir, dass wir alle in dieselbe Richtung drücken – eine solidarische Überwindung der Status Quo.

Blicken wir auf den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital – also dem, was auch als Klassenkampf bezeichnet wird. Hier kommt der Solidarität seit jeher eine besondere Rolle zu. Einem bekannten Arbeiter*innenlied zufolge, besteht die Stärke der lohnarbeitenden Menschen in diesem Konflikt in ihrer Solidarität. Solidarität und Klassenkampf sind also miteinander verbunden. 2022 hast du gemeinsam mit Michael Mazohl ein Buch mit dem Titel »Klassenkampf von Oben«2) veröffentlicht. Beim Begriff »Klassenkampf« denken die meisten wohl zuallererst automatisch an den Kampf der Arbeiter*innenklasse für die grundlegenden Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen, den »Klassenkampf von unten« sozusagen. Wie er auch in dem Lied besungen wird. Was aber ist nun ein Klassenkampf von Oben? Gibt es Unterschiede zwischen dem Klassenkampf von Oben und dem von Unten? Und wenn ja, worin bestehen diese?

Der Klassenkampf von oben zeichnet sich dadurch aus, dass er quasi geräuschlos geführt wird. Während Arbeitskämpfe von unten immer laut sind (Streiks, Maschinenstürmer, Medienarbeit etc.), findet der Klassenkampf von oben diskret und im Geheimen statt. Er funktioniert über Lobbying, über viel Geld für subtile Medienbeeinflussung, über Parteien, Astroturfing-Organisationen, Think Tanks und viel, viel Geld, das im Hintergrund fließt.

Welche Rolle spielen Arbeit und Arbeitszeit im Klassenkampf von oben?

Arbeitszeitverkürzung ist ja so etwas wie die Urforderung der Arbeiter*innenbewegung. Der 8-Stundentag, das Verbot von Wochenendarbeit, das Verbot von Kinderarbeit, der Mutterschutz und das Verbot der Arbeit von Schwangeren, Urlaubsansprüche – all das sind Arbeitszeitverkürzungen. Gegen jede einzelne dieser Maßnahmen sind die Lobbyisten ins Feld gezogen und haben den Tod der Wirtschaft prophezeit und jedes Mal ist es wundersamerweise nicht eingetreten. Es nagt aber am Urverständnis der Kapitalvertreter, dass arbeitende Menschen eine Ressource sind, die sie endlos auspressen können und auf die sie quasi einen Naturanspruch haben. Aber Menschen brauchen Muße und Gemeinschaft, brauchen Ruhe und Zeit für Hobbies und Aktivität. Genau gegen diese Version Mensch ziehen die Kapitalisten ins Feld.

Die immer wiederkehrende Debatte um Arbeitszeitverlängerung wurde in Deutschland zuletzt 2024 von Politiker*innen wie Arbeitgeberverbänden aufgewärmt – der ehemalige FDP-Finanzminister Christian Lindner sprach von einer “Mentalität, in der nicht mehr gestreikt wird für höheres Gehalt, sondern für weniger Arbeitszeit.“ Er sei „total für Flexibilität und individuelle Entscheidungsfreiheit. Aber diejenigen, die die 4-Tage-Woche fordern, wollen ja vier Tage arbeiten und für fünf bezahlt werden”. Es habe aber noch niemals eine Gesellschaft ihren Wohlstand dadurch vermehrt, „indem sie weniger arbeitet“. Auch der Grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck schlug in die gleiche Kerbe. Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) sprach sich für eine 42-Stunden-Woche aus und auch Prof. Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) hatte sich in der Debatte für eine längere Wochenarbeitszeit ausgesprochen. Wie würdest du diese Rhetorik bewerten? Welche kommunikative Strategie versteckt sich dahinter?

Es war absehbar, dass man einer völlig rational begründeten Arbeitszeitverkürzung mit der abenteuerlichen Forderung einer Verlängerung entgegenhält. Das soll die Öffentlichkeit verwirren, die nicht weiß, dass solche Prozesse nicht linear verlaufen. Es ist nicht so, dass man sagen kann: 1 Stunde Arbeit = 1 Stück Produkt und 5 Stunden Arbeit = 5 Stück Produkt. Menschen werden müde und sind am Ende des Arbeitstags nicht genauso produktiv wie am Anfang. Kranke und frustrierte Menschen arbeiten nicht genauso produktiv wie gesunde und glückliche Menschen. Die Produktivität ist, dank technischen Fortschritts, enorm gestiegen, so dass Menschen ohnehin schon Unmengen mehr Arbeitsleistung in derselben Zeit erbringen. Es wurde ihnen nur nie finanziell oder mit kürzeren Arbeitszeiten abgegolten. Tätigkeiten, für die man im Büro früher 1 Stunde gebraucht hat, sind nun in 10 Minuten erledigbar, weil man das Archiv, Ablage, Posteingang usw. alles am Sitzplatz hat. Eine Arbeitszeitverlängerung ist nicht nur Lohnraub, sondern würde mit sehr viel mehr Aufwand nicht im selben Aufwand mehr Leistung erbringen. Umgekehrt hat jede Arbeitszeitverkürzung zu keinem Produktionsabfall geführt, sondern im Gegenteil, Menschen sind viel motivierter und bringen gleichbleibende oder sogar bessere Leistungen. Insofern ist das ein abenteuerlicher Klassenkampf von Leuten, die kein Vertrauen in Menschen haben, sie nur als Ressource sehen und sich nicht einen Moment vorstellen können, dass es anders geht als so. Der enorme Rückgang von Krankenständen, dadurch eine Erhöhung der Arbeitskräfte und eine Entlastung des Gesundheitssystems scheint mir das schlagendste Argument zu sein.

In Österreich war der Klassenkampf von Oben mit Blick auf die Arbeitszeit bereits sehr erfolgreich: 2018 wurde in Österreich die Möglichkeit eines 12-Stundentags und einer 60-Stunden-Woche gesetzlich verankert. Welche Rolle haben dabei eigentlich die Gewerkschaften gespielt und welche Lehren für den gegenwärtigen Klassenkampf von unten können daraus gezogen werden?

Die Gewerkschaften haben die größten Demos seit Jahrzehnten organisiert. Es hat nur leider nichts genutzt. Die große Lehre ist, dass eine konservativ-rechtsextreme Regierung die Errungenschaften der Arbeiter*innenbewegung ohne Rücksicht auf Verluste zerschlagen wird. Dasselbe haben sie auch mit der Sozialversicherung gemacht, wo sie die Selbstverwaltung der Arbeiter*innen beendet haben. Diese Menschen und Parteien hassen arbeitende Menschen und werden alles tun, damit es ihnen materiell schlechter geht und sie mit Kulturkampf und völkischem Klimbim ablenken.

Zum Klassenkampf von oben gehört auch der ständige Verweis auf die Produktivität und der Versuch diese zu steigern. Auch Michael Mazohl und du bedient in eurem Buch das Argument, dass die Produktivität bei steigender Arbeitszeit bei den Beschäftigten sinkt und bewegt euch damit in diesem Diskurs. Dieses strategische Element, auch der Kapitalseite etwas anzubieten, ist nachvollziehbar. Dennoch ist klar, dass z. B. aus ökologischen Gründen nicht mehr so weiter gewirtschaftet werden darf. Inwiefern meinst du, eignet sich der Kampf um Arbeitszeitverkürzung auch für weitergehende gesellschaftliche Veränderungen?

Ja, das Argument dient vor allem dazu zu zeigen, wie unlogisch und ideologisch verbiestert die Kapitalseite argumentiert. Aber selbstverständlich müssen wir uns fragen, in welcher Gesellschaft wir leben möchten. Denn die Veränderung kommt so oder so. Augen Verschließen und glauben es wird so, wie es einmal (niemals) war ist ein Trugschluss und unverantwortlich. Die planetaren Grenzen sind eine naturwissenschaftliche Realität, in der jeder vernünftige Mensch agieren muss. Zumal die Klimakrise auch eine Demokratiekrise und eine soziale Krise ist. Für die Kapitalseite ist aber das Ende der Welt vorstellbarer als das Ende des Kapitalismus. Davon sollte man sich aber nicht aufhalten lassen. Wenn unsere Art des Wirtschaftens dem Wohl der gesamten Menschheit entgegensteht, dann wird man sehr pragmatisch die Art des Wirtschaftens ändern. Das kann jeder Mensch, bis auf ein paar Hardcore-Ideologen, nachvollziehen.

Als letzte Frage: Mit Blick auf die rhetorischen Tricks und diskursiven Strategien der Kapitalseite, was wären deiner Ansicht nach wichtige Punkte, um die Forderung nach einer radikalen Arbeitszeitverkürzung in den öffentlichen Diskursen stark zu machen? Und welche Rolle könnte dabei das Prinzip der Solidarität spielen?

Es ist überhaupt nicht kompliziert. Menschen sind ja nicht blöd. Man kann sie ganz simpel fragen, wie sie sich einen schönen Tag vorstellen. Die wenigsten werden davon schwärmen, wie sie Überstunden im Büro machen. Es sind die kleinen Träume: Zeit mit der Familie, den Kindern, den Partner*innen, mit sich selbst, den Nachbar*innen, für Hobbies und zum Ausruhen. Zeit ist die wichtigste immaterielle Ressource, die Menschen haben. Sie muss demokratisch verteilt und materiell unterfüttert werden. Genau das macht eine Forderung nach Arbeitszeitverkürzung. Es ist ja kein Wunder, dass Arbeitszeitverkürzung die Urforderung der Arbeiter*innenbewegung ist. Sie ist ja nicht nur eine Forderung für sich, sondern gibt erst den Raum, sich auch mit anderen Dingen und Praktiken zu beschäftigen. Solidarität ist nur dann möglich, wenn wir Solidaritätserfahrungen sammeln. Und die gibt es nur, wenn wir Zeit und Energie dafür haben. Das ermöglicht nur eine Verkürzung der Lohnarbeitszeit.

Vielen Dank dir!

1) Natasch Strobel – Solidarität, Kremayr & Scheriau 2023
2) Natascha Strobel & Michael Mazohl – Klassenkampf von oben. Angriffspunkte, Hintergründe und rhetorische Tricks, ÖGB-Verlag 2022