»Eine feministische Zeitpolitik sollte plurale Zeitlichkeiten anerkennen«

Ein Gespräch mit Friederike Beier über feministische Zeitpolitik und warum Vergesellschaftung, Umverteilung und Demokratisierung von Zeit dafür wichtig sind.

September 2025

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Friederike Beier beschäftigt sich in Forschung und Lehre mit queer-feministischen, materialistischen und dekolonialen Theorien zu Zeit, Geschlecht und Arbeit. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Margherita-von-Brentano-Zentrum (MvBZ) für Geschlechterforschung der FU Berlin. Im Unrast Verlag hat sie 2023 den Band „Materialistischer Queerfeminismus“ herausgegeben.

Einer deiner Forschungsschwerpunkte ist das Thema Zeitpolitik und Zeitgerechtigkeit. Obwohl der Tag für alle Menschen 24 Stunden hat, ist Zeit deiner Ansicht nach unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen ungerecht verteilt. Worin besteht diese Ungerechtigkeit? Und welche Rolle spielt dabei die Lohnarbeit? 

Bei Zeitgerechtigkeit geht es vor allem, um die selbstbestimmte Zeit, die Menschen zur Verfügung steht. Dabei sehen wir, dass vor allem Frauen und Migrant*innen in Deutschland viel mehr und länger arbeiten müssen und dabei auch noch weniger verdienen. Frauen arbeiteten 2022 in der Woche 70 Minuten länger als Männer, aber sie bekommen davon 8 Stunden weniger bezahlt, weil sie mehr  unbezahlte Haus- und Sorgearbeit verrichten. Die Doppelbelastung von Beruf und Sorgearbeit führt zu verdichteter Arbeit, also mehr Arbeit in weniger Zeit und zu mehr Stress sowie gesundheitlichen Risiken und Problemen. Es gibt aber auch den umgekehrten Effekt: Arbeitslose und geflüchtete Menschen haben oft sehr viel Zeit zur Verfügung, können sie aber kaum nutzen, weil ihnen die finanziellen Mittel oder die Mobilität zur gesellschaftlichen Teilhabe fehlen. 

Menschen, die über viel Geld verfügen, können sich Zeitersparnisse kaufen, indem sie etwa das Taxi nehmen, Essen gehen oder sich die Wohnung putzen lassen. Die im Kapitalismus eingeschriebene Ungleichheit ist somit auch mit Zeitgerechtigkeit verbunden. Und die Arbeit ist ein wichtiger Faktor für Zeitarmut und Zeitungerechtigkeit: Je mehr Menschen arbeiten müssen, mit oder ohne Lohn, desto weniger selbstbestimmte Zeit steht ihnen zur Verfügung.

Ist Stress demnach politisch? 

Absolut. Denn politische Entscheidungen haben Auswirkungen darauf, wer viel Stress hat. Und zwar von der Wohnungspolitik, über Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik oder Familienpolitik. Die Höhe von Mieten, soziale Absicherung, Arbeitszeitregulierung oder Elternzeitregelungen, all das beeinflusst, wer in welchem Ausmaß gestresst ist und wer entspannt(er) durchs Leben gehen kann. Generell gilt, umso wirtschaftsliberaler eine Regierung ist, desto weniger Zeit haben die Menschen, weil Arbeitszeit ein zentraler Hebel ist, kapitalistisch Mehrwert zu produzieren.

Ich bin außerdem davon überzeugt, dass gestresste Menschen schlechtere politische Entscheidungen treffen. Wer gestresst ist, informiert und diskutiert weniger und hat weniger Interesse an deliberativen Entscheidungen, also Entscheidungen, die auf der Basis von Überlegungen, Reflexionen und Argumenten getroffen werden. Deswegen kann der Faschismus auch so schnell regieren und alles andere überrollen. Darin ist ein männliches Ethos der Geschwindigkeit und Beschleunigung eingeschrieben, das sich durch eine strukturelle Sorglosigkeit auszeichnet und damit alles lähmt. Wenn, wie es gerade diskutiert wird, Feiertage abgeschafft und Arbeitstage ausgeweitet werden, wird damit der Stress erheblich erhöht und so letztlich auch der Weg zum Faschismus geebnet. 

Was verstehst du unter feministischer Zeitpolitik?

Feministische Zeitpolitik zielt aus einer feministischen Perspektive auf die Veränderung zeitlicher Strukturen und Prozesse. Sie möchte Zeit geschlechtergerechter verteilen und ermöglichen, dass genug Zeit für Care bleibt. Es gibt unterschiedliche Konzepte in der feministischen Zeitpolitik von (Lohn-)Arbeitsreduzierung, über Zeitbanken für ehrenamtliches Engagement oder die Möglichkeit, im Laufe des Lebens Auszeiten für Sorge, Bildung und die eigene Weiterentwicklung zu nehmen. Ich finde diese Initiativen richtig und wichtig, aber für mich geht feministische Zeitpolitik noch darüber hinaus. Zeit ist unmittelbar mit Macht verbunden. Feministische Zeitpolitik, die an den Machtstrukturen ansetzt, stellt Sorge in den Mittelpunkt und erkennt an, dass Sorgebeziehungen anderen Zeitlogiken folgen als die Erwerbsarbeit. Weil sie eher körper-, beziehungs- und prozessorientiert verläuft als linear nach dem Takt der Uhr, sollte feministische Zeitpolitik plurale Zeitlichkeiten anerkennen. Bisher sind Ampelschaltungen, behördliche Fristen, Unterrichtsstunden oder Pausenzeiten nach den zeitlichen Bedarfen eines männlichen, heteronormativen, gesunden und produktiven Idealbürgers gestaltet, sehr zu Lasten aller, die davon abweichen. Eine feministische Zeitpolitik würde eher plurale Zeitlichkeiten anerkennen und Zeitnormen durch Zeitdiversität und Zeitgerechtigkeit ersetzen.

Als 4-Stunden-Liga ist es uns wichtig, den Zusammenhang zwischen der Länge der Arbeitszeit und der ungerechten Verteilung von Sorgearbeit hervorzuheben. Welche Bedeutung haben Kämpfe um Arbeitszeit für eine feministische Zeitpolitik? Und wofür ist Arbeitszeitverkürzung aus einer queerfeministischen Sicht noch wichtig? 

Die Verkürzung der Lohnarbeit ermöglicht Freiräume, aber nur wenn sie bei vollem Lohnausgleich geschieht und nicht durch Arbeitszeitverdichtung kompensiert wird. Freiräume und freie Zeit ermöglichen eine gleichberechtigtere gesellschaftliche Verantwortung und Beteiligung bei der Sorgearbeit, eine demokratischere und partizipativere Politik und insgesamt entspanntere Menschen – nicht notwendigerweise, aber als wichtige Voraussetzung. Aber ich glaube nicht, dass die Verkürzung der Lohnarbeitszeit allein ausreicht. Es sollte auch um die Überwindung von Chrononormativität, also der gesellschaftlichen Standardisierung und Normativität von Zeitpunkten und Zeitspannen gehen. Und darum, verschiedene Zeitlichkeiten gleichberechtigt nebeneinander anzuerkennen. Das widerspricht jedoch den kapitalistischen Produktivitäts- und Beschleunigungsparadigmen. Deswegen beinhaltet eine transformative feministische Zeitpolitik auch die grundsätzlich anderen Wege zu sorgen, zu arbeiten und zu leben. Eine radikale Arbeitszeitverkürzung kann dafür der Anfang sein. So argumentierte auch der Soziologe Oskar Negt, dass Arbeitszeitverkürzungen an den Grundfesten des Herrschaftssystems rütteln. Insofern unterstütze ich auch eure Forderungen. Sie gehen mir nur nicht weit genug. 

Welche Verbindungen siehst du zu anderen gesellschaftlichen und politischen Kämpfen, wie etwa antirassistischen oder ökologischen?

Der Kampf für Zeitgerechtigkeit ist eng mit antirassistischen und ökologischen Kämpfen verbunden. Wenn Geflüchtete Menschen in einer Position des Wartens gehalten werden, ist das Teil eines Systems, das selbstbestimmte Zeit nur für wenige Menschen vorsieht. Gleichzeitig arbeiten vor allem Migrant*innen in prekären Verhältnissen und werden ebenfalls ihrer Zeit beraubt. Zeit ist ein Machtinstrument, das nationalstaatliche und strukturelle rassistische Interessen absichert. 

Der Zusammenhang zwischen Ökologie und Zeitpolitik zeigt sich auch daran, dass weniger Lohnarbeit auch zu einer Reduktion von Emissionen führen würde. Sorge, Arbeit und Leben kollektiver zu organisieren, würde zudem erhebliche Ressourcen sparen. Ökologische Kämpfe und Kämpfe ums Klima zielen auf eine gerechtere und ökologischere Zukunft ab. Sie verweisen darauf, dass kurzfristiger kapitalistischer Profit langanhaltende Umweltzerstörung zur Folge hat. Insofern geht es bei der feministischen Zeitpolitik nicht nur um Zeitgerechtigkeit in der Gegenwart, sondern auch um die zukünftiger Generationen und um zukünftiges Leben. 

Üblicherweise wird in den Debatten um Sorgearbeit von Zeit im Singular gesprochen. In deinem jüngsten Artikel* sprichst du hingegen von »Zeiten der Sorge«. Warum?

Zeit als Uhrenzeit gemessen suggeriert, dass Zeit immer gleich schnell vergeht. Zweifel daran zeigen sich in unterschiedlichen Zeitwahrnehmungen. Wenn ich etwas sehr gerne tue, geht Zeit sehr schnell vorbei, wenn ich auf etwas oder jemanden warte, zieht sie sich wie Kaugummi. Zeit ist eine soziale Konstruktion. Dabei vergeht Zeit für Menschen sehr unterschiedlich. Ob ich eine Ampelschaltung als zu kurz, zu lang oder genau richtig wahrnehme, hängt davon ab, wie schnell ich mich bewegen kann. Ob eine Frist angemessen erscheint, hängt davon ab, ob ich über die Eigenschaften und Kapazitäten verfüge, sie zu erledigen. Ob ich gesellschaftliche Rollenerwartungen erfülle, wie ich das Leben mit 20, 30 oder 40 gestalte, hängt davon ab, ob ich der Heteronormativität bzw. Chrononormativität entspreche. Ob mir die Vereinbarung von Sorgeverpflichtungen und Lohnarbeit halbwegs gelingt, hängt davon ab, ob mir ein System mit ausreichend Unterstützung zur Verfügung steht und niemand kurzfristig krank ist, eine Krise hat oder länger braucht als geplant. Das verweist darauf, dass es an den Rändern der linearen Uhrenzeit und der Chrononormativität, andere – im Kapitalismus untergeordnete – Zeitlichkeiten gibt. 

Da Sorge um und für andere durch Beziehungen und die Zeitlichkeit der*des Anderen geprägt ist, zeichnet sie sich auch durch plurale Zeiten der Sorge aus. Beispielsweise hat für Kinder, alte oder kranke Menschen Zeit meist eine andere Bedeutung, bzw. sie leben in einer anderen Zeitlichkeit als in der chrononormativen Uhrenzeit. Zeiten der Sorge verweisen daher auf die vielen Abweichungen von der linearen Uhrenzeit und die Notwendigkeit plurale Zeitlichkeiten anzuerkennen.

In welchem Verhältnis stehen die unterschiedlichen Sorgezeiten zu den zeitlichen Anforderungen im Kapitalismus?

Laut Marx funktioniert der Kapitalismus über die Schaffung von Mehrwert, also der Ausbeutung der Zeit, die mehr gearbeitet wird als zur Reproduktion der Arbeiter*innen notwendig ist. Arbeitszeit wird also kapitalistisch verwertet. Kapitalistische Produktivitätsgewinne lassen sich erzielen, indem Arbeiter*innen mehr und bzw. oder schneller arbeiten. Dies lässt sich besonders in den Beschleunigungstendenzen des neoliberalen Kapitalismus beobachten. Längere Arbeitstage und verdichtete Arbeitszeit führen dazu, dass es weniger Zeit für Sorge gibt und somit die Bedürfnisse der Umsorgten zu kurz kommen und Menschen mit Sorgeverantwortung noch gestresster sind. 

Darüber hinaus bedeutet das für Menschen, die mit dem kapitalistischen Beschleuni-gungstakt nicht mithalten können oder wollen, marginalisiert und ausgeschlossen zu werden. Die Ermöglichung von multiplen Zeiten der Sorge, die gleichberechtigt neben-einander existieren können und sich teilweise synchronisieren, ist daher im Kapitalismus nicht möglich.

Wie sähe eine künftige Gesellschaft aus, die die unterschiedlichen Zeiten von Sorge ins Zentrum setzt? Und was wären erste konkrete Schritte oder Projekte auf dem Weg in Richtung dieser Utopie?

Wenn wir über Utopien reden, ist es eine wichtige Einschränkung, dass Utopien immer schon begrenzt sind, weil sie durch die Machtverhältnisse der Gegenwart beschränkt bleiben. Gleichzeitig ist das Utopisieren eine notwendige Strategie gegen die scheinbare Alternativlosigkeit eines neoliberalen Kapitalismus. Ich stelle mir in Bezug auf eine feministische zeitgerechte und sorgezentrierte Utopie vor, dass unterschiedliche Zeiten und Zeitbedarfe nebeneinander und miteinander existieren können. Menschen könnten ihr Leben entsprechend ihrer eigenen Chronotypen und -bedarfe und der ihrer Bezugs-personen gestalten. Kinder könnten etwa Zeiten des Lernens und des Spielens selbst bestimmen. Sorgeverantwortung wäre von biologischer Reproduktion entkoppelt und würde auf Freiwilligkeit und kollektiver Verantwortung basieren. Geschlecht würde demnach keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Politische Entscheidungsprozesse würden entsprechend der unterschiedlichen Zeit- und Sorgebedarfe gestaltet und umgesetzt werden. Alle könnten ihre Zeit selbst- und sorgebestimmt nutzen.

Ich habe leider keinen 10-Schritte-Plan dafür. Aspekte, die mir wichtig erscheinen, sind die Vergesellschaftung, Umverteilung und Demokratisierung von Zeit. Die Vergesellschaftung von Zeit zielt darauf ab, dass Zeit nicht länger warenförmig organisiert ist. Wir brauchen zudem eine Umverteilung von Zeit, in der Zeit sozial und geschlechtergerecht organisiert wird. Und es benötigt eine Demokratisierung von Zeit, in der verschiedene Zeitlichkeiten und Geschwindigkeiten gleichberechtigt nebeneinander existieren können. 

Vielen Dank dir!

* Friederike Beier (2025): Zeiten der Sorge. Ökofeministische Zeitpolitik und die Temporalitäten von more-than-human-care. Österreichische Zeitschrift für Soziologie 50, 10. Open Access unter: https://link.springer.com/article/10.1007/s11614-025-00591-9