November 2021
Kürzlich erschien das Buch »Arbeitszeitverkürzung als Konvergenzpunkt? Sozial-ökologische Arbeitskonzepte, Wachstumskritik und gewerkschaftliche Tarifpolitik« von Steffen Liebig (Uni Jena). Alex Hiller (Liga Augsburg / Berlin // Uni Kassel) hat mit ihm darüber gesprochen.
Alex Hiller: Hallo Steffen, du bist Dr. der Soziologie an der Uni Jena und arbeitest dort aktuell im Sonderforschungsbereich zu Eigentum. Davor warst du im DFG-Kolleg zu Postwachstumsgesellschaften, das Klaus Dörre leitet. Als Vier-Stunden-Liga treten wir für radikale Arbeitszeitverkürzung auf einen Vier-Stunden-Tag ein. Realpolitisch zeigten sich bis zur letzten Bundestagswahl minimale Entwicklungen, sich unserem Ziel zu nähern. Bei VW gibt es den Versuch einer Vier-Tage-Woche. Du sprichst darüber in deinem neu erschienenen Buch “Arbeitszeitverkürzung als Konvergenzpunkt”1) Kannst du Parallelen zu vorherigen Kämpfen um Arbeitszeitverkürzung ziehen und was kann man sich von einer Vier-Tage-Woche erhoffen?
Steffen Liebig: Ja, genau, also damit sind ja schon extrem viele Punkte angesprochen – vielleicht fange ich in dem vorderen Teil der Frage an, bei den realpolitischen Entwicklungen. Da ist es in der Tat so: natürlich ist Deutschland denkbar weit entfernt von einem vier Stunden Tag, aber es gibt tatsächlich eine Tendenz zu abnehmenden Arbeitszeiten. Hier ist es aber wichtig genauer hinzugucken (Alles was ich im Folgenden sage, gilt für Deutschland, wenn ich weiter zurück gehe für Westdeutschland und seit 1990 dann für das vereinigte Deutschland). In der alten BRD ist es so, dass man eine Tendenz zu abnehmenden Arbeitszeiten bis zum Anfang der 1990er Jahre hatte und die resultierten wirklich aus kürzeren Wochenarbeitszeiten. Hier war es also hauptsächlich durch Tarifpolitik gelungen, die Wochenarbeitszeit zu verkürzen – in einigen Branchen wie der Druckindustrie, der Metall- und Elektroindustrie stärker als in anderen Branchen. Außerdem wurde der Urlaubsanspruch ausgeweitet und auch Überstunden effektiv abgebaut. Das war so die Tendenz bis Anfang der 90er Jahre. Danach geht dieser Trend zu abnehmenden Arbeitszeiten weiter, allerdings nur noch im Durchschnitt. Wenn man dann genauer hinguckt – wie setzt sich dieser Trend eigentlich zusammen bis zum heutigen Tage? – dann muss man sagen, dass dies nicht mehr durch abnehmende Wochenarbeitszeiten der Vollzeitbeschäftigten getrieben wird, ganz im Gegenteil, denn die sind sogar wieder gestiegen. Insbesondere ab Mitte der 1990er und dann stark in den 2000ern hat also die durchschnittliche Vollzeitstelle wieder länger gedauert. Sowohl was die faktische Arbeitszeit angeht als auch – in einigen Bereichen – was die vertraglich festgelegte Arbeitszeit angeht. Im Durchschnitt sinkt die Arbeitszeit aber nach wie vor, oder ist sie lange gesunken, und das liegt einfach daran, dass die Teilzeitquote stark zunimmt, also dass immer mehr Menschen in Teilzeit arbeiten und das natürlich den Durchschnittswert nach unten drückt. Und da gibt es in Deutschland, was die Teilzeit angeht nochmal zwei wichtige Punkte zu beachten. Die Teilzeit ist, erstens, ganz überwiegend weiblich, also Frauen arbeiten in Teilzeit. Von allen Beschäftigte in Teilzeit sind tatsächlich nur ca. 11% Männer. Zweitens, ist in Deutschland die Teilzeit im Vergleich zu anderen europäischen Ländern besonders kurz. Dies verweist auf ein problematisches Verhältnis zwischen der durchschnittlichen Vollzeitlänge und der durchschnittlichen Teilzeitlänge, weil die Differenz besonders groß ist und dies viele Ungleichheiten auch in geschlechterpolitischer Hinsicht nach sich zieht. Soviel erstmal zu den realpolitischen Entwicklungen.
Jetzt hast du ja auch gefragt: Arbeitszeitverkürzung als Konvergenzpunkt – was soll das eigentlich heißen? Das ist ja auch der Titel meines Buches. Mit Konvergenz meine ich einen möglichen Prozess, wo etwas zusammengeht, zusammenkommt, und ich frage in dem Buch, ob nicht zwei Diskussionsstränge oder auch unterschiedliche reale Entwicklungen zusammengehen könnten, die normalerweise nicht so stark zusammen gedacht werden. Konkret beziehe ich mich auf zwei Entwicklungen: Zunächst hat es in den letzten Jahren wieder eine arbeitszeitpolitische Belebung gegeben, also die Gewerkschaften konnten in den letzten fünf Jahren relativ viele erfolgreiche Tarifabschlüsse zu Arbeitszeitpolitik durchsetzen, was es so davor 20 Jahre eigentlich nicht gegeben hat. Also man hat teils wieder Verkürzungen eingeführt, man hat aber auch ganz neue Arbeitszeitmodelle ausprobiert: so z.B. Wahlmodelle oder selbstbestimmte Flexibilitätsmodelle. Das ist die eine Seite – da werden wir später sicher nochmal genauer drüber sprechen. Und die andere Seite ist, dass Arbeitszeitverkürzung auch vermehrt in Diskussionen um einen sozial-ökologischen Strukturwandel diskutiert wird, oder auch in wachstumskritischen Diskussionen – verbunden dann mit dem Stichworten Postwachstum oder Degrowth. Und diese Diskussionen haben natürlich enorm an Relevanz gewonnen, einfach weil sich die ökologische Krise so verschärft hat.
Die Grundsituation ist allerdings, dass beide Diskussionsstränge zu Arbeitszeitverkürzung getrennt voneinander geführt werden. Obwohl also in jüngster Zeit sowohl in gewerkschaftlichen als auch in sozial-ökologischen bis wachstumskritischen Kreisen Arbeitszeit vermehrt zum Thema gemacht wird und beiderseits Arbeitszeitverkürzungen gefordert werden, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven heraus, gibt es wenig gegenseitige Bezüge. Und das ist eigentlich meine Frage: Kann man das nicht sinnvoll zusammenführen, ergänzt sich das nicht sogar? Deswegen spreche ich von Konvergenz.
So eine Konvergenz von Diskussionen und Bewegungen hat es, glaube ich, früher mehr gegeben und hier kann man eine Parallele zu vorherigen Kämpfen in der Arbeitszeitpolitik ziehen. Wenn wir z.B. in die 80er Jahre gucken und uns den Kampf um die 35 Stunden Woche angucken, der in der Druck- und der Metallindustrie von der IG Metall und der IG Druck geführt worden ist. Der ist mittlerweile geradezu zu einem Symbol geworden, auch weil er eine gesellschaftliche Bewegung war und weit über betriebliche Kämpfe hinausragte. Natürlich wurde das im Rahmen von betrieblichen Kämpfen und im Rahmen von Tarifverträgen durchgesetzt, aber die Bewegung da hinzukommen war sehr lebendig und hatte ganz viele gesellschaftspolitische Anleihen . Die Kampagne ist damals mit Themen geführt worden, die über den Alltag hinaus in die Lebensführung reichten. Und genauso ist Arbeitszeitpolitik auch dafür prädestiniert mit ökologischen und feministischen Motiven zusammenzugehen. Und deswegen spreche ich eben von Arbeitszeitverkürzungspolitik als möglichen Konvergenzpunkt und denke eben, dass es Anzeichen gibt, dass wir heute wieder an einer Schwelle zu einer solchen Konvergenz stehen könnten.
War es denn dann auch früher schon bei der 35 Stunden Woche so, dass auch feministische oder auch ökologische Themen wichtig waren, oder waren das eher andere gesellschaftliche Themenbereiche?
Nein, also es wurde damals nicht dezidiert so geführt. Solche Themen sind aber impliziert. Das sieht man auch, wenn weiter zurückgeht: In den 50er Jahren gab es bspw. eine gewerkschaftliche Kampagne um den freien Samstag, die hieß Kampagne »Samstags gehört Vati mir«. Das wurde also mehr aus einer Familienperspektive begründet und mehr Samstag hieß natürlich mehr Zeit für den Vater. In der Folge hat dieses Modell allerdings auch das klassische Ernährermodell mit festgeschrieben, was eine klare geschlechtliche Rollenverteilung vorgab, die es so heute in dieser Form gar nicht mehr gibt. Der Slogan in den 80ern hieß dagegen »Mehr Zeit für Arbeit, Leben, Liebe« oder so ähnlich und da deutete sich auch schon etwas hedonistisches an, was auch mehr einen Bewegungscharakter hatte.
Ja. Und was denkst du von der heutigen vier Tage Woche?
Solche starken Sprünge in der Arbeitszeitpolitik sind meistens Reaktionen auf Krisen, so z.B. auch die vier Tage Woche bei VW. Ursächlich sind Absatzkrisen oder auch Unterbrechungen in der Lieferkette, die dann zu Produktionsengpässen oder Produktionsstops auch führen. Und dann ist natürlich Arbeitszeitverkürzung ein beliebtes Instrument, um Kündigungen zu vermeiden. Es ist bisweilen auch ein Instrument auf dem sich Betriebsräte und Unternehmensleitungen durchaus verständigen können; also das ist anders gelagert als der klassische gewerkschaftliche Kampf um Arbeitszeitverkürzung, wo man ja mit der Arbeitszeit runter möchte und möglichst auch eine Arbeitsumverteilung anstrebt. Das war in den 80er Jahren übrigens auch ganz stark. Das Bewusstsein, dass die Leute in Lohnarbeit auch für die kämpfen, die sozusagen freigesetzt sind von der Lohnarbeit, die erwerbslos sind, und die bessere Chancen haben wieder in Erwerbsarbeit zu kommen, wenn die durchschnittliche Arbeitsmenge, die so in der Woche oder die im Jahr gearbeitet wird, reduziert wird und es entsprechend zu Neueinstellungen kommt. Das Bewusstsein Arbeitszeitverkürzung aktiv als Beschäftigungspolitik zu betreiben war in den 80er Jahren noch ganz stark. Von diesen Motiven sind wir jedoch heute relativ weit weg. Ich habe anfangs von einer Renaissance der Arbeitszeitpolitik gesprochen, aber die gewerkschaftlichen Motive sind heute ganz andere. Sie liegen nicht mehr so sehr in gesellschaftspolitischen, in beschäftigungspolitischen Motiven, sondern eher in Gesundheitspolitik, in Entlastung und auch in Flexibilitätsansprüchen, die seitens der Beschäftigten gestellt werden, also dass die Beschäftigten vermehrt selbst über ihre Arbeitszeit bestimmen wollen. Heute soll Entgrenzung von Arbeit zurückgedrängt werden und das ist eine etwas andere Gemengelage, weshalb auch eine andere Arbeitszeitpolitik dabei herauskommt, als in den 80ern oder noch früheren Jahrzehnten.
Ja, und eben auch Veränderungen in der Produktion. Problematische Produktionsengpässe, die dann dazu führen, dass weniger gearbeitet werden muss.
Genau, diese Krisenerscheinungen kommen vermehrt hinzu. Die Folge sind krisengetriebene Arbeitszeitverkürzungen, Unterbeschäftigung und natürlich Kurzarbeit. Das hat man in der Coronakrise ganz stark gesehen und ich denke dies wird wir auch in näherer und mittlerer Zukunft noch sehr stark zunehmen, weil so viele Umbrüche an stehen aufgrund des ökologischen Strukturwandels der Wirtschaft, das man von diesem Instrument noch häufiger Gebrauch wird machen müssen.
Generell möchte ich das Thema Arbeitszeitverkürzung (Azvk) als genuin marxistisches Anliegen verorten, weil es dabei immer auch um die Frage nach der richtigen Verteilung geht. Es ist schließlich eine Frage der Lebenszeit, die man für etwas aufwendet. Diese steht im Falle der Lohnarbeit in starkem Kontrast zu einerseits Überproduktion und andererseits Arbeitslosigkeit.
Über Arbeit subjektiviert sich der Mensch zudem im Kapitalverhältnis. Es existieren in der Forschung sogar Begriffe wie “Interessierte Selbstgefährdung” um bestimmte neoliberale Arbeitsformen zu bezeichnen. Würdest du mit dem, was ich bisher nannte, mitgehen und wie schätzt du die Wirkung von Arbeitszeitverkürzung auf das Wohlergehen der Bürger:innen ein?
Ja, ich würde das unterstreichen. Es gibt da auch eine starke Traditionslinie von Marx kommend, die aber irgendwann abgebrochen ist, die die Bedeutung von Arbeitszeitverkürzung im Marx’schen Werk herausstellt. Bei Marx ist es tatsächlich so, dass er sagt, alle Ökonomie löst sich in der Ökonomie der Zeit auf.2) Auch die Schaffung von Wert ist bei Marx ja durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit bestimmt. Deswegen ist für ihn auch klar, dass Kämpfe um Zeit dazugehören und einen ganz elementaren Bestandteil des Klassenkampfes ausmachen. Es ist vielleicht ein bisschen wie ein loser Faden in der Marx-Rezeption, dass Marx ja disposeable time, also frei verfügbare Zeit, als den Reichtum selbst bezeichnet. Marx, der immer als Materialist gesehen wird und so sieht er ja auch seinen strategisch-politischen Ansatz, zielt hier auf immaterielle Ziele. Wenn es sozusagen ins politisch-utopische bei ihm geht oder um den normativen Ausblick, dann ist für ihn freie Zeit das höchste Gut. Das ist eine starke Linie bei Marx, die dann auch später in der Ökologiebewegung wieder auftaucht, so bei Andre Gorz zum Beispiel, der das aufgreift und mit ökologischen Themen verbindet. Bei Marx sind diese ökologischen Themen zwar auch schon im Gesamtwerk angelegt, aber sie sind nicht organisch verbunden mit Arbeitszeitverkürzung. Das findet man dann erst später, wenn Arbeitszeitverkürzung etwa als Alternative zur kapitalistischen Steigerungslogik betrachtet wird.
Insofern: Ja, es gibt diese Traditionslinie. Ich würde sie stark unterstreichen. Sie betont die Konflikthaftigkeit von Erwerbsarbeit, aber auch von anderen Arbeitsformen. Denn wie du gesagt hattest, geht es um Verteilung. Es geht darum wer wie lange für wen arbeitet – sowohl im Kapital-Arbeitsverhältnis als auch darüber hinaus, weil auch noch andere (Sorge-)Arbeiten zu tun sind. Auch das spiegelt sich in den heutigen Arbeitszeiten wieder, du hast etwa den Begriff der »interessierten Selbstgefährdung« genannt und damit sind wir beim Kern der heutigen Arbeitszeitordnung angekommen. In der Arbeitssoziologie wird dann oft von der Flexibilisierung der Arbeit gesprochen. Letztendlich muss man hier sagen, dass die Flexibilisierung von den Unternehmen dominiert und auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wurde; nicht zuletzt auf dem Rücken der Teilzeitbeschäftigten, die als Flexibilitätsressource genutzt werden konnten und die man immer dann einsetzen kann, wenn sie gebraucht werden, ohne dass man sie in Vollzeit anstellen muss. Das ist ein großes Problem. Das Arbeitszeitgesetz hat mit der Zeit sehr viele Ausnahmen bekommen. Schichtarbeit hat enorm zugenommen über die Jahre, die Arbeitszeitlage hat sich verändert – also wann gearbeitet wird, an verschiedenen Tagen. Neben die Flexibilisierung trat ein weiterer Trend: Subjektivierung, also dass man sich sehr stark mit der Arbeit identifiziert. Das kommt vor allem bei höher qualifizierten Tätigkeiten zum Tragen, die nicht so stark normiert sind und von der Logik her projektbasiert sind, und die dann im Falle einer fehlenden Arbeitszeiterfassung zu Selbstausbeutung und Selbstgefährdung führen können. Ein dritter großer Trend: Entgrenzung. In vielen Fällen kann man gar nicht mehr so wirklich sagen, wo die Arbeit eigentlich aufhört.
Das alles sind sehr problematische Tendenzen für die (Arbeits-)Gesundheit. Und das macht Arbeitszeitverkürzungspolitik auf Höhe der Zeit aber auch so schwierig. Die alte Weise, wie das in den 80er Jahren passiert ist, dass man die Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden zu reduzieren versucht hat, die hatte natürlich zur Voraussetzung, dass die Arbeitszeiten erfasst werden und dass die Arbeit in der verbliebenen Zeit nicht ins Unerträgliche intensiviert und gesteigert wird. Will man die Arbeitszeit heutzutage effektiv verkürzen und vor allem umverteilen, muss man einen Mechanismus finden, der sicherstellt, dass dieselbe Arbeit nicht einfach in kürzerer Zeit absolviert wird bzw. werden muss, denn das genau passiert andernfalls oft. Diese Probleme verweisen ganz stark darauf, dass Arbeitszeitverkürzungspolitik immer in Kombination mit Leistungs- und Personalpolitik und der zu erledigenden Arbeitsmenge gedacht werden muss. Das aber sind Faktoren, die kann man als gewerkschaftlich organisierte:r Beschäftigte:r nicht so einfach mitsteuern, weil das auf Steuerungskompetenzen verweist, die der Unternehmensleitung oder der Kapitalseite zugehören. Das führt dann zu ganz neuen Formen in der Arbeitszeitpolitik, die zurzeit ausprobiert werden: z.B.Wahlmodelle, die man auch individuell einsetzen kann, wo man ganze freie Tage anstelle von mehr Geld wählt, weil man sagt: Eine tägliche Arbeitszeitverkürzung bringt heutzutage unter den genannten Bedingungen gar nicht mehr so viel, davon merken die Leute nichts, es braucht ganze freie Tage, sodass die wirklich raus sind, damit sich auch ein vorteilhafter Effekt bei ihnen einstellt. Oder eben selbstbestimmte Flexibilität, so dass man selbst stärker wählen kann, wann man verkürzen möchte. Abgesichert durch kollektive Rechte und Tarifverträge können hier Einzelne überlegen, ob sie Lohnerhöhungen möchten oder diese lieber in freie Zeit umwandeln.
Die Bedürfnisse heutzutage haben sich pluralisiert und dementsprechend werden neue Formen von verschiedenen Spartengewerkschaften Branchen ausprobiert, wobei sich teils eine überraschender Beliebtheit von mehr freier Zeit zeigt. Das hat es z.B. bei der Bahn gegeben, wo die EVG früh einen entsprechenden Tarifvertrag ausgehandelt hat. Das führte dann in der Folge, obwohl man es gar nicht wollte, tatsächlich zu einem Bedarf an Mehreinstellungen. Da kam also dieser beschäftigungspolitische Effekt wieder rein, aber der ist heute durchaus nicht unproblematisch, weil in vielen Bereichen ohnehin schon eine angespannte Personalsituation vorliegt, weil zu wenig ausgebildet worden ist, weil zu wenig eingestellt worden ist, aber auch weil die Fachkräfte teilweise schlichtweg fehlen. Es hängt also alles mit allem zusammen. Letztendlich muss man sagen: Insofern man es schafft, eine Arbeitszeitpolitik zu machen, die nicht in die Fallen von Flexibilisierung, Subjektivierung und Entgrenzung tappt, dann wirkt sich das nach wie vor sehr positiv auf das Wohlergehen aus, ja.
Siehst du einen Bezug zur Coronakrise und der mit ihr entstandenen sozialen Krise und wie könnte man durch Azvk hier etwas erreichen?
In der Corona-Krise hat sich die Arbeitsordnung radikal verändert. In Bezug auf die Arbeitszeit zeigt das Stichwort Kurzarbeit. Dieses staatlich-betriebliche Instrument wurde so stark angewandt, wie noch nie in der Geschichte der BRD. Und das durchaus mit Erfolg. Es ist ein Instrument, das sich zur Beschäftigungssicherung bewährt hat, aber es schließt nicht alle Gruppen ein. Für prekär Beschäftigte wie Mini-Jobber und Randgruppen gibt es kein Kurzarbeitsgeld. Die Kernbelegschaften konnten damit recht gut geschützt werden. Hieran zeigt sich aber auch, dass rein tarifvertragliche Mittel schnell überfordert sind, wenn sie mit solchen großen Krisen und Umbrüchen konfrontiert werden, wie es die Corona-Krise im Zeitraffer war und wie das die ökologische Krise in einem viel längeren Zeitraum auch darstellt. , Hier braucht es immer auch staatliche Politik. Trotzdem es diese arbeitszeitpolitischen Erfolge während der Corona-Krise gab, wie etwa die Ausweitung der Kinderkrankentage auf einen sechs Tage längeren Anspruch, würde ich sagen, dass das Arbeitszeitinstrumentarium noch lange nicht erschöpfend genutzt worden ist. Zwei Beispiele, um das zu untermauern: Man hätte sich durchaus vorstellen können, dass man in der Corona-Krise Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich, teilweise auch unterstützt durch die Solidargemeinschaft, also durch staatliche Zuschüsse, für die Menschen einführt, die besonders belastet sind. Damit meine ich Menschen mit Kindern, weil in den Familien einfach enorme Belastungen durch die Schließzeiten der Kitas und der Schulen aufgetreten sind. Da hätte ein Recht auf Arbeitszeitverkürzung, das kollektiv abgesichert worden wäre, sicherlich eine gewisse Entlastung bedeutet, die dringend nötig gewesen wäre. Ein zweites Beispiel kommt direkt aus der IG Metall, wo ein sogenanntes Transformations-Kurzarbeitsgeld vorgeschlagen wurde. Das Konzept kombiniert zwei bereits bekannte Instrumente, nämlich erstens das normale Kurzarbeitsgeld, von dem gerade schon die Rede war und das durch die Arbeitsagentur gefördert wird, und zweitens Umschulungen und Weiterqualifikationen im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation. Von der IG Metall wäre in den Entgeltverhandlungen eine Nullrunde hingenommen worden, aber nur unter der Prämisse, dass es nicht zu Kündigungen kommt, sondern die Leute für neue Berufsfelder fit gemacht werden. Diesen Vorschlag und die Kombination fand ich sehr weitreichend, weil er deutlich gemacht hat, wie viel Gestaltungsspielraum in der Arbeits(zeit)politik möglich und nötig wäre. Allerdings ist es dazu nicht gekommen. Ich denke aber auch trotzdem, dass diese Diskussion nach der Pandemie nicht einfach abreißen wird.
Während Corona wurde ersichtlich, dass wir gar nicht so viel Produktion brauchen und es auch mit weniger funktioniert. Da gingen die CO2-Werte drastisch nach unten und man hatte sich gefragt, ob wir die Klimakatastrophe auch dadurch abwenden können, wenn wir die Arbeitszeit ein bisschen verkürzen.
Man hatte in der Corona-Krise zu Beginn und bis in den Sommer 2020 hinein einen sehr starken Rückgang der CO2-Emmissionen gehabt, wie er nur in Krisen vorkommt. Gleichzeitig darf man die Lockdownpolitik nicht mit einer effektiven Klimapolitik verwechseln: Ein Jahr später hat man nämlich Nachholeffekte gesehen, die ebenso stark sind. Dieses Frühjahr gab es Sprünge im CO2-Ausstoß, die deutlich gemacht haben, dass das eben nur eine Delle im Emissionsausstoß war und die Minderung entsprechend deutlich nachgeholt wird. Das leuchtet auch ein, wenn man sich ansieht, dass in der Lockdownpolitik überhaupt kein Strukturwandel stattgefunden hat. Ich mache das einmal an der Verkehrspolitik deutlich: Die CO2-Emissionen sind deshalb runtergegangen, weil der Verkehr abgenommen hat. Und der Verkehrsbereich ist bis vor der Corona-Krise bekanntlich der Sektor gewesen, der überhaupt keine CO2-Emissionen eingespart hat in Deutschland seit 1990. Im Gegensatz zu anderen Bereichen, wo die Einsparungen zwar auch nicht weit genug gingen, hat sich im Verkehr seitdem nichts getan. Europaweit haben die Emissionen dort sogar stark zugenommen. Kurz, vor der Corona-Krise ist der Verkehrssektor weit hinter jedem Klimaziel hinterher gehinkt. In der Corona-Krise war das dann eben nicht so, weil der Verkehr stark abgenommen hat, die Pendelwege sind ausgefallen wegen Home-Office, Urlaubsreisen sind ausgefallen, privater Verkehr ist ausgefallen. Das alles hat dazu geführt, dass die Emissionen runtergingen und Deutschland paradoxerweise in seinen Klimazielen geblieben ist.
Wenn man sich jetzt aber ansieht, was denn ein klimafreundlicher Verkehr wäre, dann hieße das Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, Ausbau des Bahnnetzes, Ausbau des Busnetzes, Rückgang des privaten PKWs – das sind alles Sachen, von denen in der Pandemie das Gegenteil passiert ist. Der ÖPNV hat so starke Einbrüche gehabt wie noch nie. Und der finanziert sich ungefähr zu 40% durch Ticketverkäufe und das andere sind verschiedene öffentliche Gelder. Das heißt der ÖPNV als Schlüsselstelle für eine Mobilitätswende ist enorm in Bedrängnis geraten. Die Leute sind wieder umgestiegen auf private PKWs. Der Aus- und Umbau, den das alternative Verkehrsträgernetz eigentlich gebraucht hätte, der ist verschleppt worden. Es hat natürlich Rettungspakete gegeben, die aber nur notdürftig die Einnahme-Ausfälle kompensiert haben. Das ist in anderen Bereichen auch so. Es hat diesen Skalen-Effekt gegeben, d.h. die Emissionen haben einfach abgenommen, ohne dass etwas umgebaut worden wäre und jetzt wird eben alles wieder hochgefahren. Deshalb muss man sagen: Die Coronapolitik ist keine nachhaltige Klimapolitik.
Und im Falle der Arbeitszeitverkürzungen während der Corona-Krise muss man auch sagen, dass es sich um Verkürzungen handelte, die mit sehr starken Lohneinbußen einhergingen und teilweise auch mit Beschäftigungsverlusten. Deswegen kann das so kein Modell für eine nachhaltige Entwicklung sein. Nichtsdestotrotz gibt es auch eine sehr lebendige Diskussion, inwiefern sich Arbeitszeitverkürzung ggf. positiv auf Klimafragen und die Klimakatastrophe auswirkt. Da ist die Forschungslage insgesamt noch ungenügend, aber man kann in einige Tendenzaussagen treffen. Es ist nämlich erstens so, dass jeder Produktivitätsfortschritt, der zu freier Zeit, anstatt zu mehr Investitionen und mehr Nachfrage umgesetzt wird, tendenziell für die Umwelt von Vorteil ist. Und wenn man über die Produktivitätsentwicklung hinaus reduzieren würde, käme man in den Bereich einer echten Arbeitsumverteilung. Zum Hintergrund dazu: Heute hat man eine starke Polarisierung der Arbeitszeiten, das heißt die einen müssen sehr lange arbeiten, und für die anderen bleibt sozusagen nur sehr wenig bezahlte Arbeit übrig, die sind also unterbeschäftigt oder teilweise auch arbeitslos (wobei die Unterbeschäftigung in Deutschland schon länger das größere Problem darstellt). Diese Polarisierung ist etwas, was man mit einer gezielten Arbeitszeitpolitik aufheben könnte. Gewöhnlich war es aber so, dass die Produktivitätsschritte, die es gegeben hat – und die waren ja enorm -, dass die eben nicht in freie Zeit umgesetzt wurden in den letzten Jahrzehnten. Hätte man das aber (stärker) gemacht, wäre dies ökologisch vorteilhaft gewesen. Man kann das auch historisch sehen: In den Ländern, in denen das mehr gemacht wurde als in anderen Ländern, in der EU ist das bspw. in einem stärkeren Ausmaß passiert als in den USA, zeichnet sich durchaus als ein Faktor ab, der positiv auf das Klima wirkt.
Denn die Alternative wäre ja: Wenn die Produktivität steigt und die Arbeitszeit nicht verkürzt wird und die Leute ihre Arbeit nicht verlieren sollen, dann muss auch der Gesamt-Output steigen. Dann braucht es Wirtschaftswachstum. Es ist aber bis heute so, dass es nicht gelungen ist, Wirtschaftswachstum vom Umweltverbrauch, von Emissionen abzukoppeln. Das heißt hier könnte Arbeitszeitverkürzung zweitens auch ein Stück weit den Wachstumsdruck für die Beschäftigungssicherung reduzieren.
Es gibt noch einen dritten Zusammenhang, den man mit Komposition beschreibt. Die Frage lautet hier: Was machen die Leute eigentlich mit ihrer (ggf. vergrößerten) Freizeit? Das ist ein sehr kompliziertes, schwer zu messendes Thema, weil da viel mit reinspielt, bspw. Zeitverwendungsstudien, Studien zur Klimaintensität von verschiedenen Tätigkeiten, aber grundsätzlich ist es oft so, dass umweltschonendes Verhalten zeitintensiv sind. Weil ich vielleicht etwas langsamer unterwegs bin, weil ich mir das Essen selbst zubereite usw.. Und diese Zeit für tendenziell ökologische Verhaltensweisen, die muss man natürlich auch haben. Hier gibt gewisse Hinweise darauf, dass ein ökologischer Lebensstil mehr Zeit braucht – und umgekehrt, dass die, die sehr knapp an Zeit sind, auch zu ökologisch negativen oder energieintensiven Verhaltensweisen neigen. Je nachdem, wo man wohnt, ist die individuelle Zeitintensität der Lebensgestaltung aber abhängig von den objektiv vorhandenen Möglichkeiten. Zum Beispiel bräuchte es auf dem Land dafür den Ausbau des ÖPNV.
Mit Fridays for Future hat sich eine ähnlich der repräsentativen Politik abgewandte soziale Bewegung gebildet, wie damals schon während der Occupy-Proteste. Welche Rolle spielen deiner Meinung nach die Gewerkschaften für Arbeitszeitverkürzungen? Hat sich ihr Fokus auf Tarifpolitiken verlagert? Wie kann Gewerkschaftsarbeit mit Klimaschutz zusammengedacht werden?
In der Tat teile ich die Beobachtung, dass gerade total viel parallel läuft und auch ein bisschen auseinandergefallen ist im Laufe der Zeit. Das ist ein Problem. Wenn man ein paar Jahrzehnte zurückgeht, sieht man, dass Gewerkschaften mit einem noch viel stärkeren gesellschaftspolitischen Anspruch aufgetreten sind. Übrigens auch in Umweltfragen, da gab es eine sehr progressive Diskussion Ende der 80er Jahre in den Industriegewerkschaften. Aber im Zuge von Krisen vor dem Hintergrund der Wiedervereinigung in den 90er Jahre ist das zusammengeschrumpft zu Abwehrkämpfen und sogenannten Kernthemen. Ich glaube, der Verlust dieser gesellschaftlichen Themen ist ein großes Problem.
Und jetzt hat man auf der Bewegungsseite – bei den Fridays zum Beispiel – ein bisschen das Spiegelbild. Dort gibt es nämlich ganz viel gesellschaftspolitischen Anspruch, ein hohes Krisenbewusstsein und eine gute Informiertheit, aber es fehlt an Mitteln, wirklich etwas umzusetzen. Und das ist es, was die Fridays-Bewegung mehr und mehr merkt und in eine Suchbewegung treibt, zum Höhepunkt der klimapolitischen Streiks hat es dann das sogenannte Klimapaket von der Bundesregierung gegeben und die Ernüchterung war groß, weil es völlig unzureichend war angesichts der enormen Gefahren, welche die Klimakatastrophe birgt. Das haben die Fridays natürlich sofort erkannt. Die, mit denen ich gesprochen hatte, waren auch sauer und empört. Sie hatten nur keine Mittel zur Hand, wie sie das hätten beeinflussen oder ändern können. Die »appelative Politik« war dazu nicht ausreichend.
Jetzt gibt es deswegen eine Bewegung, die Richtung Klimastreik in den Betrieben arbeitet. Wie zum Beispiel beim Zusammenschluss von Fridays und Students for Future mit Verdi zu einer Kampagne im ÖPNV letztes Jahr, wo auch Arbeitszeit ein Thema gewesen ist. Es gibt Ähnliches bei einem Bosch-Werk bei München, wo es auch eine Verbindung von betrieblichen und klimapolitischen Kämpfen gibt. Neben dieser Suchbewegung gibt es auch Strategien zivilen Ungehorsams, die also weggehen von symbolischen Massenstreiks, wie zum Beispiel zuletzt bei der Internationalen Automobilmesse in München. Das sind Protestformen, die aktiv stören um ein stärkeres Gewicht und Gehör zu finden. Was ich aber eigentlich sagen will: Diese beiden Stränge, soziale und ökologische Motive, müssen wieder zusammenfinden, um wirksam zu werden. Da müssen sich beide Seiten bewegen und es können auch beide Seiten voneinander profitieren. Die deutschen Gewerkschaften, die relativ eng im System industrieller Beziehungen arbeiten und denken, können vom lebendigen Bewegungsinput profitieren, und die Fridays, die ja oft noch gar nicht im Arbeitsleben stehen, kriegen ein besseres Gespür dafür, was es heißt, betrieblich-machtpolitisch Dinge umsetzen und durchsetzen zu müssen. Das kann zusammengehen und gerade Arbeitszeitpolitik bietet sich dafür an.
Welche Aufgabe misst du der Technologie und insbesondere der Digitalisierung bei? Sind das die Produktionsmittel, die man sich – ohne technokratisch zu wirken, mehr im Sinne der Kybernetik – zu Nutze machen kann?
Du meinst Kybernetik im Sinne einer größeren gesellschaftlichen Planung? Da muss ich ein bisschen zurückhaltend antworten, weil ich da nicht so stark eingearbeitet bin. Grundsätzlich ist es natürlich so, dass die Digitalisierung, so wie jeder Produktivitätsfortschritt, Potenziale oder vielmehr Notwendigkeiten zur Arbeitszeitverkürzung birgt. Gerade die Digitalisierung birgt aber auch die Gefahr, dass die in einer Gesellschaft auszuübenden Tätigkeiten stark auseinanderfallen, dass also einfache Tätigkeiten wegfallen, weil sie automatisiert und digitalisiert werden, und dann vielleicht Programmiertätigkeiten oder Maschinenbautätigkeiten übrigbleiben. Sodass wir dann eine Tendenz dazu haben, dass es bestimmte Felder gibt, wo sehr viel und sehr lange gearbeitet werden muss und in den anderen Bereichen muss überhaupt nicht mehr gearbeitet werden.
Im Prinzip wäre das ja gut und ein Befreiungspotenzial von Arbeit – aber wenn es sich gesellschaftlich so äußert, dass die einen sehr viel und die anderen sehr wenig arbeiten, dann ist es letztlich für beide Seiten das Gegenteil von Befreiung. Die Digitalisierung birgt außerdem die Gefahr der Auf- und Abwertung von Tätigkeiten, so dass manche Tätigkeiten einfacher und stumpfer auszuüben sind, weil so viel digitalisiert und automatisiert wurde, dass die Arbeitsbedingungen gedrückt werden. Leute brauchen zum Teil keine Fachausbildung mehr, sie können angelernt werden, ihre Arbeit verliert an Wert, sie können zu schlechteren Bedingungen und entsprechenden Löhnen eingestellt werden. Man muss also immer gucken, wie technische Prozesse sozial umgesetzt werden.
Und dann gibt es noch eine andere Diskussion, ich habe es vorhin schonmal gesagt: Jeder Produktivitätsfortschritt birgt die Notwendigkeit einer Arbeitszeitverkürzung – in der ökologischen Ökonomik wird aber umgekehrt auch diskutiert, ob nicht zumindest manche Produktivitätsfortschritte so energieintensiv sind – also nur durch fossile Energieträger und entsprechenden CO2-Ausstoß erkauft werden können -, dass es rein aus der ökologischen Perspektive nicht dafür besser wäre weiterhin menschliche Arbeitskraft an dieser Stelle einzusetzen. Das ist sozusagen ein Spannungsfeld: Was kann alles durch Technik gelöst werden? Und es ist vor allem auch ein Spannungsfeld, wenn die gewerkschaftliche Politik sich darum dreht. Da muss man dann wirklich im Einzelfall gucken, welche CO2-Bilanz, welche Energiebilanz hat eigentlich welcher Produktivitätsfortschritt? Ist er dann eigentlich ein Fortschritt? Und wenn er es nicht ist – wie verhält man sich dann dazu?
Während unser aller Videokonferenzen in der Krise stellte man sich zum Beispiel durchaus die Frage, wie viel Ressourcen denn jetzt dafür draufgehen, dass irgendwo Server für unsere digitalen Treffen laufen.
Ja, man ist gerade bspw. dabei auszurechnen, ab wie viel elektronischen Büchern lohnt sich das E-Book gegenüber dem gedruckten Papierbuch. Und es ist gar nicht so, dass alle Digitalisierung immer schlecht sei. Man muss immer gucken: Wo liegen die Schwellenwerte? Wo macht es Sinn, dass ich mir einen E-Book-Reader zulege, wie oft nutze ich den, wieviel Papierbücher würde ich einsparen? Da gibt es Forschungsgruppen, die das ausrechnen und einem relativ präzise sagen können: „Ab hier macht es Sinn – davor bleib mal lieber bei deinen analogen Materialien“.
Wie schätzt du die aktuelle Lage nach der Bundestagswahl für die Möglichkeit einer Arbeitszeitverkürzung ein? Die Sondierungsgespräche zwischen Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen ergaben in puncto Arbeitszeitgesetz, dass von der Tageshöchstarbeitszeit abgewichen werden können soll. Das will die Koalition dann anwenden, wenn Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen das vorsehen. Geführt wird dieses Modell der durch Flexibilisierung möglichen Erhöhung der Arbeitszeit (unter dem Mantel der Interessenvereinbarung zwischen Kapital und Arbeit) als “Experimentierraum”. Was wird das de facto für die Arbeitszeit bedeuten? Sind nun Kämpfe um Arbeitszeitverkürzung wichtiger denn je seit der Einführung des jetzt gefährdeten Acht-Stunden-Tages vor mehr als 100 Jahren?
Tatsächlich ist das sehr problematisch. Wie ich vorhin schon einmal sagte, sind im Laufe der Zeit im Arbeitszeitgesetz bereits sehr viele Ausnahmen hinzugekommen. Da gibt es schon extrem viel Flexibilität und auch Verlängerungsoptionen. Es ist jetzt die Gefahr einer weiteren Liberalisierung und Aufweichung dieses Gesetzes gegeben. Wenn man sich dann noch vergegenwärtigt, dass das Ganze nicht zwischen gleichen Partnern ausgehandelt wird, sondern es immer ein Ungleichgewicht zugunsten der Kapitalseite gibt, die da im Arbeitsalltag stärker bestimmen kann, dann sehe ich darin tatsächlich auch eine große Gefahr. Ich weiß nicht, ob das mit bestimmten Vetorechten auf der Arbeitsseite konzipiert wird und was genau am Ende dabei rauskommen wird. Man erfährt über die Verhandlungen bisher ja noch nicht allzu viel. Aber ich sehe da auch eine gewisse Gefahr der Aufweichung und der müsste auch entsprechend entgegnet werden mit einer Stärkung der Tarifverträge. Ob das aber von einer möglichen Ampelregierung zu erwarten ist, ist ehrlich gesagt eher fraglich. Denn wenn es die FDP ins Finanzministerium schafft, wird eine Umverteilung – auch der Arbeitszeit – weitestgehend blockiert werden.
Wäre jetzt ein guter Moment um den Gewerkschaften das Thema Arbeitszeitverkürzung nochmals einzuschärfen?
Einen Bedarf an selbstbestimmter flexibler Arbeitsgestaltung gibt es, glaube ich, nach wie vor, das wissen auch die Gewerkschaften und versuchen dies vermehrt – und durchaus mit Erfolg – umzusetzen. Mir ist gerade nicht bekannt, wie sich die einzelnen Gewerkschaften zu den relativ schweigsam laufenden Verhandlungen einer möglichen Koalition genau positionieren. Die Informationslage ist gerade auch noch ein bisschen dünn. Aus Forschungen der letzten Jahre kann ich aber sagen, dass die gewerkschaftliche Position eher diese ist, dass man am Arbeitszeitgesetz lieber gar nicht rütteln sollte, weil es sonst eben auf eine stärkere Flexibilisierung hinauslaufen würde, die diese Höchstgrenzen dann einreißt.
Ja, das ist der gemeinte Experimentierraum, der dann vermutlich eher in Richtung Kapitalseite ausgelegt wird. Dabei könnte man ja auch genau andersherum plädieren, nämlich dass der Experimentierraum hin zu einer Verkürzung geht.
Könnte man machen. Die Idee einer kurzen Vollzeit für alle auf Basis einer 35-Stunden-Woche könnte man auf diese Weise verankern und populärer machen. Da ist auch in der Betriebskultur noch viel zu tun.
Wie stark ist das globale Bewusstsein der sozialen und klimatischen Effekte von Arbeitszeitverkürzung und was muss noch weiterhin geschehen, um das Thema stark zu machen?
Das Bewusstsein ist zum Teil stärker als man denkt. Es hat für lange Zeit in Deutschland und Europa keine progressiven Arbeitszeitinitiativen gegeben. Als es die dann in den letzten Jahren gab und man in Tarifverträgen wieder arbeitszeitpolitische Erfolge durchsetzen konnte, da war man doch sehr positiv überrascht, wie viel Beteiligung und Begeisterung dies ausgelöst haben. Wo es die Wahl gab, hat sich oftmals die Mehrheit, in manchen Betrieben nahezu 100% der wahlberechtigten Belegschaften, für Arbeitszeitverkürzung ausgesprochen. Es gibt schon einen gewissen Bedarf und der ist nicht ausgeschöpft.
Man muss das aber auch in Zusammenhang mit der Entgeltpolitik sehen. Historisch war es immer so, dass da, wo die Arbeitszeit stark verkürzt worden ist, die Spielräume für Lohnsteigerungen geringer waren. Das ergibt auch Sinn, weil ja Teile der Produktivitätsfortschritte nicht in Produktionssteigerungen und höhere Löhne, sondern eben in freie Zeit fließen. Dann wird es also umso schwieriger gleichzeitig noch Lohnsteigerungen durchzusetzen. Natürlich kann es das auch beides parallel geben, aber dann tendenziell mit geringeren Lohnsteigerungen. Jetzt leben wir in Zeiten, wo die Preise für Lebensmittel und Energie zum Teil sehr stark steigen. Grundsätzlich müssen wir uns in den nächsten Jahren darauf einstellen, dass das häufiger der Fall ist. Hohe Lebenshaltungskosten bei Dingen die man sich nicht aussuchen kann und die man einfach braucht: Nahrung, Energie, Mieten. Das könnte den Spielraum für Arbeitszeitverkürzung wieder einschränken. Insofern ist es gut und notwendig, dass jetzt ein eindeutig höherer Mindestlohn kommen soll, der zwar immer noch nicht hoch genug ist, aber doch eine deutliche Steigerung darstellt, weil in Branchen mit niedrigen Löhnen sonst nämlich überhaupt kein Spielraum für Arbeitszeitverkürzung da ist. Das ist global auch ein Thema, weil vielerorts das Lohnniveau nicht so hoch ist wie in Deutschland, aber die Lebenshaltungskosten mitunter dennoch hoch sind. Die führt zu einem hohen Druck erstmal länger zu arbeiten, oder die gewerkschaftliche Durchsetzungsfähigkeit auf höhere Entgelte zu konzentrieren. Das heißt, Arbeitszeitverkürzung braucht auch ein gewisses Lohnniveau. Man darf das nicht gegeneinander ausspielen, sondern muss sehen, dass das zusammenhängt.
Klar, es braucht einen gewissen gesellschaftlichen Wohlstand, damit man sich Arbeitszeitverkürzung erstmal leisten kann, aber es handelt sich bei Arbeitszeitverkürzung ja immer noch um eine Produktionskritik und nicht in etwa um einen minimalistischen Lebensstil, weil das ja wiederum Austeritätspolitik wäre. In einem Gespräch mit Max Horkheimer, dem damaligen Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, sagte der Sozialphilosoph Theodor W. Adorno bereits in den 1960er Jahren, er würde in einer Gesellschaft, in der die Arbeit nicht mehr unsinnig, sondern so geplant und durchsichtig wäre, dass sie dem gesellschaftlichen Ganzen diente, gern für zwei Stunden am Tag ein ganz einfacher Liftboy sein. Diese Tätigkeit hat inzwischen an Relevanz verloren, aber abstrahiert man einmal vom konkreten Einsatz, so wäre es nach unserem Forschungsstand doch möglich, nur vier Stunden am Tag für eine zusammen funktionierende Gesellschaft zu arbeiten und dabei auch noch Vorteile für das Klima – meteorologisch als auch sozial – herauszuholen . Hierzu ginge es schlichtweg um eine Produktion, die sich an dem orientiert, was wir alle brauchen, und nicht an dem Geld, was die Unternehmer privat erwirtschaften wollen. Die Arbeitszeitverkürzung wird oft im Kontext von reduktionistischen, minimalistischen Weltauffassungen genannt. Warum handelt es sich bei der Frage nach radikaler Arbeitszeitverkürzung nicht um einen Lifestyle, der durch Konsumverzicht oder Konsumkritik (also Austeritätspolitik im weitesten Sinne) zu erreichen ist, sondern im Gegenteil um eine Produktionskritik, die vor allem auch gar nicht heißt, dass weniger gearbeitet wird, sondern eher, dass Arbeit besser verteilt wird, so dass es einerseits kein Burnout-Syndrom durch Überarbeitung und andererseits keine (durchaus psychisch ebenso belastende) Arbeitslosigkeit geben muss?
Die Anekdote mit dem Liftboy finde ich jetzt gerade und wenn es um Arbeitszeitverkürzung geht besonders unterhaltsam, weil es diesen Beruf inzwischen ja gar nicht mehr so gibt, also hier schon notwendige Arbeit weggefallen ist. Aber was damit gemeint war, ist natürlich nach wie vor unheimlich aktuell und gültig. Mich hat das sofort an dieses berühmte Marx-Zitat erinnert, wo er sagt, in der kommunistischen Gesellschaft wäre es möglich am Morgen dieses und am Abend jenes zu tun. Man könnte morgens Fischen und abends Viehzucht betreiben, später würde man dann noch Kritiker sein oder Hirte. Man müsste nie nur einen dieser Berufe ausüben und könnte dann nicht mehr das andere machen. So etwas Ähnliches höre ich auch bei Adorno raus. Beide verbinden das mit der rationalen Einrichtung der Gesellschaft, wo Arbeit nicht mehr dem Verwertungszwang des Kapitals unterworfen ist. Das ist natürlich für die Diskussion um Arbeitszeitverkürzung von enormer Relevanz. Da haben wir bis jetzt noch gar nicht darüber gesprochen, weil wir bis jetzt viel im Hier und Heute waren und das ist ja auch nicht schlecht, weil da muss man halt ansetzen, sonst wird es abstrakte Utopie. Aber man kann natürlich trotzdem sagen, dass die wirklich großen Potenziale von Arbeitszeitverkürzung sich erst umsetzen lassen, wenn man gleichzeitig den Profitzwang bricht. Wenn man als Gesellschaft aus dem ausbrechen kann, weil dann sozusagen dieser Zwang immer mehr zu produzieren nicht mehr da ist. Dann könnte man sich nach den gesellschaftlichen und nicht nach den zahlungskräftigen Bedürfnissen richten. Und das ist dadurch eine ganz ähnliche Utopie, wie du sie eben beschrieben hast. Insofern kann ich das nachvollziehen, diese zwei Stunden als Liftboy arbeiten zu wollen. Gleichzeitig muss man diesen Wunsch nach wie vor mit einem gewissen kritischen Konjunktiv belegen. Das kann man mit einem anderen Zitat von Adorno deutlich machen, nämlich hatte er – ich glaube 1965 – gesagt: »Vollbeschäftigung wird zum Ideal, wo Arbeit nicht mehr das Maß aller Dinge sein müsste.« Und da ist wieder diese Marx’sche Befreiungsperspektive: Eigentlich haben wir als Gesellschaft schon längst den Stand der Produktivkräfte erreicht, als dass wir uns viel stärker von der Arbeit befreien könnten. Die notwendige Arbeit könnte viel stärker reduziert sein, als wir heutzutage arbeiten. Aber dem ist nicht so. Denn, wie Adorno schon sagte: Vollbeschäftigung wurde historisch gerade dann zum Ideal als sie nicht mehr notwendig gewesen wäre. Das hing und hängt natürlich mit den realen gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen, die nicht die Gestalt annehmen, dass alle ihre Arbeitszeit gleichmäßig absenken. Sondern, was wir heute vermehrt wiederfinden, wird zum Beispiel von Klaus Dörre als „prekäre Vollerwerbsgesellschaft“ bezeichnet oder auch von Andre Gorz schon früh analysiert, der dafür den Begriff der „prekären Dienstbotengesellschaft“ geprägt hat. Wir haben in dieser Arbeitsgesellschafts-Form eine sehr hohe Erwerbsquote, aber die Arbeit ist ungleich aufgeteilt. Wirklich sichere, gut entlohnte (Vollzeit-)Stellen sind nur für einen immer geringeren Teil der Bevölkerung überhaupt noch zugänglich. Die werden dann als das Ideal gesehen, weil sie Absicherung bieten, während die Arbeitszeiten im Durchschnitt zwar sinken, aber nicht diejenigen, die alle Individuen tagtäglich mitunter ausrichten, weil die einen zu wenig und die anderen zu viel arbeiten. Das Befreiungsmotiv der Arbeitszeitverkürzung ist daher unabgegolten.
1) https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/soziologie/arbeitszeitverkuerzung_als_konvergenzpunkt-16793.html
2) Zur Ökonomie der Zeit gibt es bereits ein Liga-Interview mit Norman Jakob