Ein Gespräch mit Norman Jakob über Zeit – im Kapitalismus und darüber hinaus.
Mai 2020
4-Stunden-Liga: Hallo Norman. Stell Dich doch mal bitte kurz vor.
Norman Jakob: Ich habe an einem Wirtschaftsgymnasium mein Abitur abgelegt und danach Geschichte und Philosophie studiert. Diese drei Momente – Ökonomie, Geschichte und Philosophie – bilden sozusagen eine Linie, die sich bis heute durchzieht. Meine Forschungen konzentrieren sich seit einigen Jahren insbesondere auf den geschichtlichen Wandel des gesellschaftlichen Umganges mit Zeit, auf die Frage, welche Strukturen damit in Verbindung stehen – und wie Marx in seinem Bemühen die kapitalistische Produktionsweise zu analysieren, ein theoretisches Instrumentarium entwickelt hat, womit genau dies in den Blick kommt und verstanden werden kann. Meine Dissertation zu diesem Thema befindet sich in Fertigstellung.
Neben dem Antrieb, Wirtschaft zu verstehen; die geschichtlichen Bedingtheiten und Formierungen zu erkennen; die Gesellschaft, in der wir leben, kritisch zu begreifen – liegt darin natürlich auch ein (philosophisch gesprochen) existenzielles Movens: Denn die Zeit ist für den Menschen als endliches Wesen von höchster Bedeutung. Und wie mit Zeit umgegangen wird, ist damit zugleich eine existenziell-menschliche Frage.
Zu dem kürzlich erschienenen Buch “Work-Work-Balance”1) hast du einen Aufsatz mit dem Titel “Das Konzept einer ‘Ökonomie der Zeit’ bei Marx” beigesteuert. Was meint Marx damit, wenn er von einer “Ökonomie der Zeit” spricht?
Wörtlich genommen taucht „Ökonomie der Zeit“ bei Marx eigentlich nur an einer Stelle seines vielfältigen Nachlasses und seiner zahlreichen Publikationen auf. Nämlich in einer Passage seines ersten großen ökonomischen Manuskripts im Rahmen seiner späteren „Kritik der politischen Ökonomie“, das in den Jahren 1857 und 1858 entstanden ist und später bei seiner Erstpublikation im Jahre 1939 den Titel „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“ erhielt. In dieser Passage spricht Marx von einer „Ökonomie der Zeit“. Gemeint ist damit zunächst Ökonomie im Sinne von Ersparung, also: Ersparung von Zeit. Wenn man aber genauer hinblickt, fließen in dieser Passage verschiedene Überlegungen von Marx zusammen, welche die Zeit in ihrer Bedeutsamkeit für den Menschen, ihrem Auftreten in der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Wichtigkeit in einer nachkapitalistischen Gesellschaft ansprechen.
Marx greift zwar später nicht mehr auf die „Ökonomie der Zeit“ als Begriff zurück, aber der Ort ihres Aufkommens und diese Formulierung zeichnen aus, dass in ihr ein Gehalt steckt und um sie herum Überlegungen kreisen, die in der Zeit ihren Bezugspunkt haben, verschiedene Dimensionen öffnen und dabei Fäden von Marx früheren Überlegungen aufnehmen sowie auf die weitere Entwicklung seiner Theorie weisen. Nämlich als eine Theorie, die Ökonomie durchgehend auf Zeit hin konzeptualisiert und dabei die Bedeutsamkeit der Zeit kritisch markiert.
Indem ich von einem Konzept spreche, versuche ich diese Zusammenhänge herauszustellen und gerade auf diese wichtigen Stränge der theoretischen Arbeit von Marx ein Schlaglicht zu werfen.
Wie tritt Zeit denn in der kapitalistischen Produktionsweise auf? Ist Zeit nicht immer Zeit, immer und überall gleich?
Zeit ist ein vielschichtiges Phänomen. Vereinfacht könnte man zunächst zwischen einer objektiven und einer subjektiven Zeit unterscheiden. Während die objektive Zeit etwas ist, das unabhängig von uns abläuft und beispielsweise im Wechsel von Tag und Nacht besteht, ist die subjektive Zeit abhängig vom eigenen Empfinden. Wenn uns langweilig ist, vergeht die Zeit gefühlt langsamer; und wenn wir etwas Spannendes und Interessantes erleben, vergeht sie sprichwörtlich „wie im Fluge“.
Man könnte zwar sagen, dass Zeit als das Phänomen einer ständig vorwärts laufenden Bewegung immer schon da war. Aber welche Bedeutsamkeit die Zeit in Gesellschaften besaß und inwiefern es diesen nötig, nützlich und möglich war, diese ständige Bewegung in kleinteilige Takte zu zerlegen, ist gesellschaftsgeschichtlich und je nach Gesellschaftsformation verschieden.
In einer durch die Landwirtschaft dominierten Gesellschaft waren beispielsweise die Naturrhythmen, die Abfolge der Jahreszeiten, Ernte und Aussaat, der Wechsel von Tag und Nacht bestimmend. An diesen Naturrhythmen wurde sich orientiert. Zeit wurde des Weiteren ungefähr – nämlich nach dem Sonnenstand – bestimmt; mehr war üblicherweise nicht nötig. Mit der Entwicklung der mechanischen Uhr vor etwa 700 Jahren hat sich diese Situation zunächst technisch grundlegend gewandelt. Nun war es möglich, die Zeit kleinteilig in feste Takte zu ordnen und auf diese Weise anzuzeigen. Doch dass die Uhrzeit dann gesellschaftlich bedeutsam wurde und eine so dominante Stellung gewonnen hat wie in der modernen Gesellschaft, kam nicht einfach mit der technischen Möglichkeit auf, sondern hat wesentlich auch mit den Strukturprinzipien dieser Gesellschaftsformation zu tun.
In diesem Sinne kann man also neben objektiver Zeit und subjektiver Zeitwahrnehmung noch eine soziale Zeit unterscheiden, in der die objektive Zeit in bestimmter Form oder Weise gesellschaftlich relevant wird.
Die Erklärung, zumal die theoretische, inwiefern Zeit in der kapitalistischen Produktionsweise eine bedeutsame Rolle spielt, ist jedoch nicht so schnell abgemacht.
Mit meinen Arbeiten möchte ich zeigen, dass die Marxsche Theorie ein Instrumentarium bereitstellt, um dies zu verstehen.
Der Ansatzpunkt von Marx in seiner Analyse der kapitalistischen Produktionsweise ist die Werttheorie. Der Wert von Waren wird von Marx bekanntlich durch die Arbeitszeit bestimmt. Dieser Ausgang beruht im Marxschen Theorieaufbau zwar auf Abstraktionen. Er sieht mit anderen Worten erst einmal von bestimmten Umständen ab. Die Werttheorie dient ihm aber zur Entwicklung des Zusammenhangs der kapitalistischen Produktionsweise – und der Umgang mit Zeit ist dadurch also immer zentral mitverhandelt und im Blick. Darauf kann ich hier aus Platzgründen nicht weiter eingehen; aber ich möchte das an zwei Beispielen illustrieren, allerdings unter Verzicht auf werttheoretische Explikation und Einordnung:
Nehmen wir zuerst das Naheliegendste: den Arbeitstag. Die kapitalistische Produktionsweise beruht im Gegensatz zu anderen Produktionsweisen in der Geschichte wesentlich auf Lohnarbeit. Lohnarbeit bedeutet, dass ich meine Arbeitskraft verkaufe. Heute geschieht dies üblicherweise per Zeitlohn. Für eine bestimmte Zeit des Tages, die wir für ein Unternehmen arbeiten, bekommen wir Geld. Nicht nur wird die Uhrzeit dabei wichtig, um festzulegen, wann wir unsere Arbeit zu beginnen haben, sondern es kommt auch die Länge des Arbeitstages selbst mit hinein. Der Kapitalist, dem es auf den Profit ankommt, hat ein Interesse daran, dass möglichst viel in dieser Zeit gearbeitet wird, diese Zeit möglichst lange dauert oder intensiv gefüllt ist. Doch es ist nicht einfach nur sein Interesse, sondern durch die Konkurrenz wird er dazu auch gezwungen. Hierdurch entsteht systemisch Zeitdruck.
Die kapitalistische Produktionsweise ist aber auch wesentlich auf Zirkulation angewiesen. Die Waren, die in ihr produziert werden, müssen ja schließlich – um nur diesen Punkt zu nennen – verkauft werden; sie durchlaufen also eine Zirkulation, die das Produkt von seiner Fertigung letztlich zur Konsumtion führt. Je schneller sich diese Zirkulation abspielt, desto eher kann der Produktionsprozess erneut begonnen werden, da Geld wieder zur Verfügung ist. Hierdurch entsteht systemisch eine Tendenz zur Beschleunigung.
Die kapitalistische Produktionsweise konstelliert letztlich einen Zusammenhang, der wesentlich auf Zeit beruht und einen spezifischen Umgang mit Zeit schafft und forciert. Dadurch entstehen systematisch Zeitkonflikte, aber auch Potentiale.
Bis jetzt hast du in deiner Darstellung vor allem die Perspektive des Kapitals eingenommen. Unter kapitalistischer Produktionsweise tritt Zeit demnach als Zeit des Kapitals auf. Aber wechseln wir doch mal die Perspektive. Wie stellt sich der bestimmte Umgang mit Zeit im Kapitalismus denn für die Menschen dar, die ihre Arbeitskraft verkaufen und in den Betrieben unter dem Kommando des Kapitals verausgaben müssen?
Um genauer in den Blick zu bekommen, was hier in Frage steht und welche Zusammenhänge vorliegen, ist es hilfreich, zuerst einen etwas breiteren Fokus anzulegen. Denn unter dem Gesichtspunkt der Zeit stellt sich dies für den Menschen in einer Reihe von Zeitkonflikten dar. Das kann vielleicht in drei Hinsichten verdeutlicht werden:
Übergreifend kann zunächst auf einen Konflikt verwiesen werden, der wesentlich mit der Uhrzeit zusammenhängt. In der Forschung wird der Uhrzeit eine „innere Uhr“ oder „Innenzeit“ gegenübergestellt beziehungsweise eine „Eigenzeit“ – wobei letzteres auch die Zeit von sozialen Systemen bedeuten kann, worauf ich jetzt aber nicht eingehen will. Von einer solchen inneren Uhr oder eigenen Zeit wird gesprochen, da der Mensch ja nicht einfach in der Zeit lebt; er ist als Lebewesen selbst zeitlich organisiert. Er hat seine eigenen Rhythmen, welche in der Chronobiologie untersucht werden. Diese Rhythmen hat er nicht nur als Lebewesen Mensch, sondern auch eigentümlich als Individuum. Die Uhrzeit dahingegen, obwohl sie sich mit ihren 24 Stunden an den Naturrhythmus des Tages anlehnt, koppelt sich prinzipiell von diesen Rhythmen ab und etabliert ein von ihnen losgelöstes abstraktes System. Ihre feste, kleinteilige Struktur dient heute als Grundlage einer Zeitordnung, die zunehmend andere Zeitarten verdrängt hat. Der eigene Rhythmus, die Eigenzeit, kommt also mehr oder weniger in Konflikt mit dieser Zeitordnung, die sich an der Uhrzeit ausrichtet. Die Auseinandersetzung mit diesem Konflikt findet Tag für Tag statt. Sei es das frühe Aufstehen, wenn zur Arbeit oder zum Unterricht gegangen werden muss; seien es die auf einem Biorhythmus basierenden Hoch- und Tiefphasen der Leistung während des Tages, die häufig in uhrzeitlich festgelegte Zeiten fallen; oder sei es die Müdigkeit am Abend, die einen vielleicht gerade dann überkommt, wenn die um 20 Uhr angesetzte Veranstaltung beginnt.
Die kapitalistische Produktionsweise macht die Uhrzeit dominant. Sie hat aber wesentlich noch weitere Auswirkungen, womit wir bei der Frage im engeren Sinne angelangt sind:
Ganz grundlegend und systematisch ist hier auf die Länge des Arbeitstages zu verweisen. Dieser steht ja keineswegs fest, sondern muss gesellschaftlich in der Auseinandersetzung gegenläufiger Interessen bestimmt werden. Und auch innerhalb eines einmal festgelegten Arbeitstages ergeben sich Zeitkonflikte. Sei es die Intensivierung von Arbeiten dadurch, dass immer mehr Menschen zu bedienen oder zu versorgen sind, oder immer mehr Aufträge erledigt werden müssen; oder sei es die Abknappung von Pausenzeiten beziehungsweise Zeiten, die zum Beispiel für Toilettengänge aufgewendet werden dürfen. Ein Feld, dass neuerdings verstärkt im Blickpunkt steht, ist die Erweiterung der ausnahmsweisen Maximalarbeitszeiten und die Verkürzung der Länge von Ruhezeiten zwischen zwei Arbeitstagen. Die Menschen erfahren somit konfliktiv, dass es in der kapitalistischen Produktionsweise um Zeit geht: Angefangen mit den Rahmenbedingungen der Arbeit und ihrer Aushandlung; und durchgreifend in der täglichen Arbeit selbst, die Zeitdruck, Stress und Erschöpfung mit sich bringt; Erschöpfung, die auch über die Arbeitszeit hinausgeht und maßgeblich beeinflussen kann, was man noch macht oder nicht mehr machen kann. Ganz zu schweigen davon, wenn die Arbeitszeit als zu lang erscheint, da sie nicht genügend Raum lässt für andere Tätigkeiten. Der Umgang mit Zeit wird auch als etwas erfahren, das einem gegenübersteht und dem man ausgesetzt ist. Diese Aufzählung könnte noch weiter fortgeführt werden; wichtig ist aber:
Da sich das Kapital durch Zeit verwertet, ergeben sich systematisch Konflikte zwischen der Zeitbeanspruchung des Kapitals und den Zeitbedürfnissen der Menschen.
Zudem ist auch ein auf die Zeit beziehbarer Konflikt zwischen Vernunft und gegenwärtigen Verhältnissen latent. Dies drückt sich beispielsweise in der Hinsicht aus, dass fraglich werden kann, warum für Ramschproduktionen überhaupt Arbeitszeit aufgewendet wird. Beziehungsweise warum durch Überproduktion oder unnötige Arbeiten, die aber des Lohnes wegen geleistet werden müssen, sozusagen Zeitverschwendung stattfindet. Dies kann dann ein weiteres Moment sein, wodurch die Frage nach rationaleren Verhältnissen aufgeworfen wird; nach Verhältnissen, in welchen offensiv die Zeit als wichtig für den Menschen in Stellung gebracht wird. Und das kann sich nicht zuletzt auf Potentiale stützen und grundlegend von Potentialen ausgehen, welche die kapitalistische Produktionsweise selbst hervorgebracht hat und hervorbringt.
Das heißt, die für ihre enorme Effizienz im Umgang und Einsatz von Zeit gerühmte kapitalistische Produktionsweise bewirkt im Großen und Ganzen betrachtet eine gigantische Verschwendung von Arbeitszeit, die letztlich ja auch immer unsere Lebenszeit ist?
Hier liegt in der Tat eine Gegensätzlichkeit vor. Denn obwohl die kapitalistische Produktionsweise in gewisser Hinsicht durchaus effizient ist, führt sie dennoch auch zu einem Zustand, der sozusagen angelehnt an den „dichten“, d.h. den zugleich normativ gehaltvollen wie deskriptiven Begriff der Ausbeutung durchaus als Verschwendung bezeichnet werden kann.
Die kapitalistische Produktionsweise ist innerbetrieblich erstaunlich effizient. Da das Wirtschaftssystem darauf beruht, dass die Verfügbarkeit von Arbeitskraft gekauft wird, um daraus Wert zu produzieren, wird in den einzelnen Unternehmen danach gestrebt, die Zeit der Lohnarbeitenden möglichst effizient für die Kapitalverwertung zu nutzen; nichts soll verschwendet werden, alles in die Wertproduktion einfließen. Denn je effizienter die Ware produziert wird, desto größer verspricht der Profit zu werden – sei es in der eigenen Gewinnrechnung oder weil gegenüber der Konkurrenz sogar der eigene Absatz gesteigert werden könnte. Doch spätestens überbetrieblich stößt dies auf systeminterne Bruchstellen: Bei aller Planung, die ja in der Regel von den Unternehmen versucht wird, ist das, was in einem Betrieb produziert wurde oder beispielsweise in Dienstleistungsbetrieben an Personal zeitlich bereitgehalten wird, nicht zwingend auch gesellschaftlich nachgefragt. Denn nur wenn eine Nachfrage, genauer: eine kaufkräftige Nachfrage besteht, die dann auch zum Kauf führt, verwertet sich die Zeit, die das Kapital gekauft und beansprucht hat, ja tatsächlich. Diese Verwertung kann gelingen, sie muss es aber nicht. Damit geht nicht nur einher, dass möglicherweise das Produzierte „umsonst“ produziert wurde, sondern auch dass die Unternehmen, die dauerhaft im Vergleich zu ihren Konkurrenten ineffizient sind, bankrottgehen und dadurch ebenfalls die großen zeitlichen Aufwände, die ihre Organisation und Einrichtung mit sich gebracht haben, verloren gehen. Gesamtwirtschaftlich betrachtet wird auf diese Weise aber – durch die punktuelle Verschwendung hindurch – in der Tendenz durchaus eine große Effizienz in der Produktion erreicht, da es gelingt, dasjenige, was wertrealisierend nachgefragt wird, möglichst mit geringem Aufwand zu produzieren. Und auch wenn neue Produktionen begonnen werden, ist das Ringen um die effizienteste Gestaltung schon im Gange, da entweder die Geldgeber bei Laune zu halten sind oder angesichts zukünftiger Konkurrenz vorgesorgt werden muss. Die Effizienz wird also auf eine Weise hervorgebracht und organisiert, dass durch die punktuellen Verwerfungen hindurch letztlich im Durchschnitt in der Tat eine erstaunliche Effizienz erzielt wird.
Aber diese Antwort ist unbefriedigend. Und um das weiter aufzuhellen und den innewohnenden Widersprüchen auf die Spur zu kommen, hilft es, sich den Begriff der Effizienz anzusehen.
Unter „effizient“ wird ja verstanden, mit möglichst geringem Aufwand ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen. Beide Parameter des Effizienzverhältnisses: geringer Aufwand einerseits und bestimmtes Ergebnis andererseits müssen aber mit einem Maß ausgedrückt werden.
In der kapitalistischen Produktionsweise bemisst sich der Aufwand am Geld und das Ergebnis letztlich durch möglichst billige Produktion.
Diese Effizienz ist somit durchaus borniert. Zwar spielt in der Verwertung Zeit eine entscheidende Rolle, aber der kapitalistischen Produktionsweise geht es ja nicht einfach nur um Zeit, sondern um Geld und Profit.
Damit steht nicht nur in Zusammenhang, dass Maschineneinsatz nur dort stattfindet, wo menschliche Arbeitskraft nicht billiger ist, sondern das hat auch die Konsequenz, dass es zur Überarbeitung auf der einen Seite und Arbeitslosigkeit auf der anderen führen kann. Oder auch, dass auf vorhandene Naturressourcen im Raubbau zurückgegriffen wird.
Aus Wertperspektive betrachtet mag das vielleicht effizient scheinen, da die Produktion billig ist; und vielleicht bei Verbrauch der alten Arbeitskräfte neue zur Verfügung stehen; oder der Regenwald ja noch Bäume hat. Individuell ist es je nach Lage aber eine Zumutung. Und die gesellschaftlichen Kosten, die letzten Endes entstehen, zeigen sich häufig erst mit Verzug und sind nicht Teil der Geldrechnung.So kann sich also in verschiedenen Hinsichten die Effizienz verkehren. Denn das, was im Effizienzverhältnis der kapitalistischen Produktionsweise als Ergebnisparameter bestimmt wird, bewegt sich in einem bornierten Bezugssystem. Das Ergebnis ist innersystemisch letztlich dann gut, wenn es möglichst billig produziert wurde und durch den Absatz die Verwertung des eingesetzten Kapitals ermöglicht ist.
Aber dieses Ergebnismaß der billigen Produktion – und das ist nicht nur aus Sicht des Zeitumganges ein wichtiger Punkt – ist ja noch Teil eines übergeordneten Kreislaufes. Die Weise der Effizienzorganisation beruht wesentlich darauf, dass die kapitalistische Produktionsweise ständig angetrieben ist zum einen exploitativ zu produzieren, wodurch systematisch Zeit gebunden wird, und zum anderen fortwährend zu akkumulieren, also Geld und Produktionsmittel aufzuhäufen, um die bestehende Produktion zu verbessern oder neue Produktionen beginnen zu lassen und weitere Verwertungsmöglichkeiten zu finden.
Dieser Kreislauf schraubt sich nicht nur immer weiter nach oben, sondern er beruht zunächst auch darauf, dass die Wertproduktion durch Zirkulation geschlossen wird. Denn erst wenn die Produkte auch gekauft werden, kann die Produktion erneut begonnen und abermals Wert produziert werden. Dies hat in der kapitalistischen Produktionsweise nicht nur zur Folge, dass der Konsum – ob sinnvoll oder nicht – angeheizt wird, sondern auch Erscheinungen wie geplante Obsoleszenz, also die gezielte Beschränkung der Gebrauchsdauer eines Produkts, auftauchen. Die kapitalistische Produktionsweise ist auf dieses Immer-neu, Immer-mehr angewiesen. Es handelt sich um einen beständigen, systematisch erzwungenen Kreislauf, der fortgesetzt zum Zwecke der Verwertung und des systemischen Funktionierens die Zeit der Menschen beansprucht und absorbiert. Denn letztlich ist es ja immer die Zeit der Menschen, die in den Produkten liegt oder symbolisch aufgespeichert ist.
Diese wertbestimmte Organisation der Effizienz kann somit nicht nur destruktiv für Mensch und Natur sein; sie ist durchaus auch borniert, da sie im Prinzip nur den Werthorizont kennt. Aus der Zeit der Menschen wird zwar das meiste im Sinne der Wertproduktion gemacht, die obendrein unaufhörlich in Gang sein muss. Aber das, was innerhalb des Systems der Kapitalverwertung als effizient erscheint, muss es mit einem anderen Bezugspunkt als der Wertverwertung nicht sein. Wenn der Wert als Zeit dechiffriert und auf die Lebenszeit des Menschen bezogen wird, kann ein aufrüttelnder Eindruck davon entstehen, worum es hier eigentlich geht.
Neben den Konflikten, die die kapitalistische Produktionsweise stetig hervorbringt, sprichst du auch von Potentialen, die durch diese entstünden. Meinst du damit eine Zeitersparnis durch Produktivitätsfortschritt? Inwiefern können solche Potentiale dann überhaupt als emanzipatorische Möglichkeiten betrachtet werden, wenn der Großteil geronnener Zeit immer wieder hauptsächlich als Kapital reinvestiert wird oder auf privaten Konten einer Klasse landet?
Das ist richtig. Ich hatte insbesondere die Produktivität im Sinn, als ich von den Potentialen gesprochen habe. Zwar liegt auch in den beschriebenen Konfliktsituationen emanzipatorisches Potential, weil jede Konfliktsituation auch einen gewissen Druck auf die Subjekte bedeutet, die dadurch auf Widersprüche gestoßen werden und Interesse an einer Änderung gewinnen können. Aber entscheidend ist, dass auch objektiv durch den Kapitalismus Potentiale hervorgebracht werden.
Die kapitalistische Produktionsweise übt ja nicht nur Zeitdruck aus oder schafft Beschleunigung. Mit ihr hängt wesentlich auch eine ungeheure Entwicklung von Produktivkräften zusammen. Vereinfacht gesprochen: Um sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen und die eigenen Verwertungsmöglichkeiten zu erweitern, ist das Kapital zur Entwicklung von Produktivkräften angehalten. Das heißt aber: Die Produktion einer bestimmten Quantität von Produkten wird in kürzerer Zeit als vorher möglich.
Die Maschine, die chemische Industrie, die Elektronik einschließlich der Digitaltechnik, neue Formen der Arbeitsorganisation, gestiegenes Wissen und Fertigkeiten, all dies sind im Vergleich zu vorangegangen Gesellschaften in der Geschichte unglaubliche Produktivitätsentwicklungen.
Dieses Potential ist aber in der Tat in Beschlag genommen und steht im Dienst einer abstrakt-selbstbezüglichen und dadurch mitunter destruktiven Logik. Um aus der emanzipatorischen Möglichkeit emanzipatorische Wirklichkeit werden zu lassen, ist eine Befreiung aus dieser Logik nötig. Durch neue Grenzziehungen, die in der langen Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen Kapital, Staat und Arbeit schon gelungen sind, konnten die Potentiale, welche die kapitalistische Produktionsweise nolens-volens hervorbringt, auch in geldliche oder zeitliche Besserstellung für einen großen Teil der Lohnarbeitenden umgesetzt werden. Dadurch sind wichtige Freiräume entstanden. Diese sind jedoch – das darf nicht übersehen werden – noch ganz zentral verwoben mit der Logik des Kapitals.Die Potentiale allerdings, welche die Produktivkraftsteigerung eröffnet hat, die aber kapitalistisch gebunden sind, könnten noch weiter freigesetzt werden.
Marx und Engels waren überdies der Ansicht, dass auf Grundlage des hervorgebrachten Potentials, der Produktivkraftentfaltung, eine ganz andere gesellschaftliche Organisation möglich werde und sich vorbereite.
Wie du weißt, setzt sich die 4-Stunden-Liga für die generelle Einführung des Vierstundentags bei vollem Lohn- und Personalausgleich ein. Deswegen wäre unsere abschließende Frage an dich: Lässt sich der Kampf für radikale Arbeitszeitverkürzung deiner Meinung nach in Marx’ Konzept der “Ökonomie der Zeit” einordnen? Wenn ja, welcher Stellenwert würde diesem Kampf in der “Ökonomie der Zeit” zukommen?
Eine radikale Arbeitszeitverkürzung kann auf ganz unterschiedlichen Ebenen in dieses Konzept eingeordnet werden: Zunächst weil sie als Kampf um Zeit ja tatsächlich auch den Kernpunkt betrifft: Die kapitalistische Ökonomie als zeitliches System ist eben auch zwingend eine Auseinandersetzung um Zeit. Das Kapital benötigt zu seiner Verwertung die Zeit der Menschen und diese haben ihre eigenen Vorstellungen und Bedürfnisse, die sie dagegen durchzusetzen versuchen.
Außerdem liegt in dem Konzept und in diesem Kampf ja als ein treibendes zentrales Moment die Bedeutsamkeit der Zeit für den Menschen. Das hat auch Marx so gesehen. Es gibt unzählige Äußerungen von ihm, in denen er ausdrücklich sagt, dass die Zeit eine wesentliche Bedeutung für den Menschen besitzt. Für Marx ist die freie Zeit, wie er ebenfalls schreibt, eigentlich der wahre Reichtum. Denn erst sie würde es ermöglichen, dass die Menschen sich bilden und als Individuen entfalten können.
Die Beschränkung und Verkürzung des Arbeitstages war für Marx daher ein zentrales Anliegen, wie sich insbesondere bei seiner Tätigkeit im Rahmen der 1864 gegründeten „Internationalen Arbeiter-Assoziation“ zeigt. Für ihn war dies sogar „eine vorläufige Bedingung, ohne welche alle andren Bestrebungen nach Emancipation scheitern müssen“. Denn erst so haben die Lohnarbeitenden den Raum, um sich zu entwickeln; diskutierend Verständnis von ihrer Lage, den gesellschaftlichen Zuständen und Möglichkeiten zu gewinnen; sich zu vernetzen und politisch weiter zu organisieren. Und schließlich konnten die Lohnarbeitenden mit der Durchsetzung des Normalarbeitstages die Erfahrung gewinnen, wie es Marx bezüglich der Fabrikgesetzgebung schreibt, die „erste bewußte und planmäßige Rückwirkung der Gesellschaft auf die naturwüchsige Gestalt ihres Produktionsprocesses“ mit ins Werk gesetzt zu haben. Der dabei weitergehend geforderte 8-Stunden-Arbeitstag schien zeitgenössisch utopisch – für viele wahrscheinlich genauso utopisch wie heute eine Forderung nach nur 4 Stunden.
Quantitativ final festgelegt hat sich Marx im Hinblick auf die Länge des Arbeitstages im Übrigen nicht. Realistisch dachte Marx in die Richtung, dass Arbeit immer notwendig bleibt, die Freiheit aber, wie er schreibt, darin bestehen würde, „dass der vergesellschaftete Mensch, die associirten Producenten diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, ihn unter ihre gemeinschaftliche Controlle bringen, statt von ihm als einer blinden Macht controllirt zu werden, mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adaequatesten Bedingungen vollziehn.“ Das ist freilich eine Perspektive, die über die bloße Frage nach der Länge der Arbeitszeit hinausgeht und – verknüpft mit dem Konzept der „Ökonomie der Zeit“ – die Zeit ganzheitlich geltend macht. Anders gesagt: Dem Konzept der „Ökonomie der Zeit“ ist zugleich eine Perspektive inhärent, die über die kapitalistische Produktionsweise hinausweist, und das Konzept schließt gerade auch ein, dass in einer nachkapitalistischen Gesellschaft die Zeit von einer zentralen Bedeutung im Hinblick auf den Menschen sein wird.
1) Stützle, Ingo (Hrsg.): Work-Work-Balance. Marx, die Poren des Arbeitstags und neue Offensiven des Kapitals, Karl Dietz Verlag, Berlin: 2020.